Fanny

Fanny

„We had the manager from hell“ erinnert sich NICKEY BARCLAY in einem Interview und tituliert erwähnten Roy Silver auch gleich noch mit einem wenig schmeichelhaften „sonofabitch“. Harte Worte aus dem Mund der Keyboarderin/Sängerin/Songwriterin die mit der US-Girls-Band FANNY von der Presse einmal den Titel „weibliche Beatles“ verpasst bekommen hatte. Silver hatte damals offenbar die totale vertragliche Kontrolle über Fanny, jagte die Band quer über den Kontinent von Auftritt zu Auftritt und zockte zünftig ab bis das Mädchenquartett nach einer Umbesetzung auseinanderbrach…

 
  

Gegründet wurde Fanny 1967 von den Geschwistern JUNE (Guitar/Voc) und JEAN MILLINGTON (Bass/Voc) sowie der Drummerin ALICE DE BUHR in Sacramento. Anfags lief die Unternehmung noch unter dem Namen WILD HONEY, aber mit dem Zuzug von NICKEY BARCLAY die mit Joe Cocker auf Tour gewesen war und dem Abgang von Gitarristin ADRIENNE CLEMENT nannten sie sich FANNY und ergatterten einen Plattenvertrag bei Reprise. Das erste von Richard Perry (Barbra Streisand, Carly Simon) produzierte LP erschien 1971. Das Debutalbum FANNY präsentierte elf Songs (wovon nur gerade zwei Fremdkompositionen waren) mit melodischem Goodtimerock, eigenständig, handwerklich perfekt inszeniert. Wie auch auf den folgenden Platten reichte das Spektrum von hartem rifforientiertem, wild voran preschendem Rock wie beim Song „Changing Horses“ bis hin zu ruhigeren Nummern wie „Come And Hold Me“. Weibliche Konkurrenz gab es keine zu befürchten, einzig BIRTHA vielleicht, aber die agierten noch eine Ecke härter und hatten vielleicht deshalb weniger kommerziellen Erfolg. Der Longplayer FANNY HILL (1972) entstand in den Londoner Apple-Studios unter den Fittichen von Engineer Geoff Emerick. MOTHERS PRIDE von 1973 wurde schliesslich von Todd Rundgren betreut. Danach kam es zum Break, JUNE hatte einen Nervenkollaps und nahm das zum Anlass um aus den knechtenden Verträgen auszusteigen. Ohne JUNE mochte aber auch Alice nicht mehr und schmiss die Drumsticks hin. Silver brachte als Ersatz Suzi Quatros ältere Schwester PATTI und die Trommlerin BRIE BRANDT in die Band. Aber da war der Zug bereits abgefahren, ein letztes Album namens ROCK AND ROLL SURVIVORS (1974) auf dem Casablanca-Label von Kiss ging den Bach runter und FANNY lösten sich auf.

JUNE MILLINGTON veröffentlichte einige weitgehend unbekannt gebliebene Soloalben und gründete ein Musik-Institut für Mädchen.

JEAN MILLINGTON ehelichte den Gitarristen Earl Slick, packt aber ab und zu den Bass aus dem Koffer um ihre Schwester zu begleiten.

NICKEY BARCLAY wurde jahrelang der Zutritt zu den grossen Studios verwehrt da Mr. Silver darum besorgt war ihre weitere Karriere kaputt zu machen.

ALICE DE BUHR wurde bei A&M „Marketing Coordinator“.

Vinyl-Discography:
Fanny (1971)
Charity Ball (1971)
Fanny Hill (1972)
Mother’s Pride (1973)
Rock And Roll Survivors (1974)

CD-Discography:
FANNY LIVE (1998, Aufnahmen von 1973)
FANNY- First Time In A Long Time: The Reprise Recordings (2002, Rhino)
WALKED THE EARTH (2018, Blue Elan Records)

    

Nachtrag I:
Die 4-CD-Rhino-Handmade-Box ist wahrlich ein exzellentes Exponat, enthält die kompletten Reprise-Alben plus jede Menge Aufnahmen aus den Archiven der Musikerinnen, die ersten Demos von WILD HONEY, Live-Aufnahmen, Radio-Werbejingles, Alternativtakes. Alles erstklassig remasteret. Von dieser ausgezeichneten und auf 5000 Exemplare begrenzten Box habe ich hier No. 4424 archiviert.

Nachtrag II:
Trotz guter Presse blieben FANNY vor allem ein amerikanisches Phänomen.
Hierzulande konnte man in den Seventies die FANNY-LP’s meist relativ günstig als Cutouts erstehen. FANNY HILL war meine erste und faszinierte mich dermassen, dass nach und nach auch die drei anderen Reprise-Longplayers angeschafft wurden.

Nachtrag III:
ROCK AND ROLL SURVIVORS wurde 2009 von Cherry Red als CD veröffentlicht. Nach einer grottenschlechten Vinyl-Überspielung die jemand ins Web gestellt hatte, nun also doch noch ein richtiger Hörgenuss, deshalb einmal mehr „thanks“ an Cherry Red. Nein, schlecht ist ROCK AND ROLL SURVIVORS nicht, man bedenke, immerhin war der Band mit JUNE MILLINGTON das Aushängeschild, respektive die Leitfrau abhanden gekommen. Man muss sich diese Platte vielleicht ein paar Mal anhören, aber dann kann man schon gewisse Grooves spüren: FANNY hatten hier neue Trends einfliessen lassen, vermehrt mit teilweise leicht funky Einfärbungen wie sie gegen Mitte Siebziger üblich geworden waren, und auch NICKEY BARCLAYS Keyboard-Sounds klingen moderner, was vor allem an der damaligen, schnellen Entwicklung des handelsüblichen Tastenarsenals liegt. Die Backing Vocals auf dieser Scheibe sind durchgehend ein Genuss, wie immer eigentlich bei FANNY, einzig die ein und anderen Leadstimmen (PATTI QUATRO?) lassen teilweise etwas zu wünschen übrig. Und ob ein Cover von „Let’s Spend The Night Together“ wirklich nötig gewesen ist? Nun ja, eigentlich ungerecht, da ziehe ich eben immer Vergleiche mit Glenn Hughes‘ durchgeknallter und abgehobener Discosoulfunkversion auf dessen „Glimmer-Twins-Medley“ von 1979. ROCK AND ROLL SURVIVORS enthielt mit dem ausgekoppelten „Butter Boy“ die erfolgreichste FANNY-Single mit der sie Platz 29 der Billboard-Charts erreichten. Danach schmissen FANNY die Handtücher und wurden zur Rockhistory-Legende.

Nachtrag IV:
Ha!
Ein Wunder!
FANNY are back!
2018 erschien die CD WALKED THE EARTH mit neuem Material.Und das was das Trio um JEAN, JUNE und Drummerin BRIE DARLING in 33 Minuten raushaut ist jeden Cent wert. Ja, da bin ich immer noch der alte FANNY-Fan, denn ich schliesse die neuen Songs auf Anhieb ins Herz und lasse mich entführen von diesen laidback rockenden Perlen nach FANNY-Land, in eine Welt in der vielleicht nicht alles besser ist, in der aber Hooks und Grooves wie immer am richtigen Platz stehen. Great… absolutely great…

Nachtrag V:
Diesen Artikel hatte ich ursprünglich im Forum des Rockzirkus veröffentlicht.
Ich weiss nicht mehr wer das war, aber irgendeiner regte sich fürchterlich auf über die Rhino-Box die er sich angeschafft hatte. Es war aber nicht die Aufmachung der opulenten Compilation die ihn störte, sondern die Musik die ihm nicht gefiel, er fühlte sich betrogen. Tja, im Nachhinein lache ich mich halbtot über diese Angelegenheit, damals waren allerdings nach hitziger Diskussion sämtliche Parteien zutiefst beleidigt.

mellow

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