Dass der Gig der kalifornischen Twin Temple für längere Zeit wohl mein letzter Konzertbesuch gewesen ist, war mir am 13. Februar 2020 noch nicht klar. Die Folkrockband Hexvessel, die zweite Band die zusammen mit Twin Temple die Tour bestritt, war infolge Krankheit (Grippe?) und leerer Bandkasse an exakt dem Tag des Konzertes im Winterthurer Club Gaswerk abgesprungen, sie machten sich nach der Show in Wien auf direktem Weg zurück nach Finnland.
Der Veranstalter wurde natürlich auch davon überrascht, reduzierte die Eintrittspreise und Twin Temple bestritten den Gig eben alleine. Und sie machten das grossartig, rissen einmal mehr ihren wunderbar teuflischen Rhythm & Blues vom Zaun und dehnten ihr einstündiges Programm mittels Zugabe-Jam am Schluss um eine Viertelstunde aus. Ich machte mich nach der tollen Show auch vom Acker, ging hinaus in die Nacht und traf hinten an der Rampe auf die schimpfenden Musiker die in strömendem, eiskaltem Regen vom rückwärtigen Ausgang der Foyer-Bühne um das Gebäude eilen mussten um in die warme Garderobe zu gelangen. Tja, das ist leider der Nachteil wenn die Gigs im kleinen Rahmen im Foyer stattfinden, dafür sind sie immer sehr intim, Musiker und Publikum stehen sich sozusagen gegenseitig auf den Füssen, direkteres Live-Feeling ist fast nicht möglich. Neben einem „oh holy shit“ konnte ich aber schon wieder Lachen hören, tja, manche Situationen auf Tour sind eben dermassen schräg, dass man sie nur mit Humor ertragen kann.
Der Eventbereich ist mittlerweile komplett zum Erliegen gekommen. Das grassierende Coronavirus Covid-19 – respektive die weltweit ergriffenen Massnahmen dagegen – bewirkte in rasendem Tempo den Stillstand der Gesellschaft. Die Absagen von Sportmeisterschaften und Kulturanlässen jeglicher Art, von Messen und Schulen, eigentlich von allen Bereichen die bislang völlig selbstverständlich waren, das soziale Leben kommt auf allen Ebenen zum Erliegen. Ganze Staaten ziehen den Stecker und raten der Bevölkerung zu Hause zu bleiben, Italien beispielsweise steht schon komplett still, oder fast, raus geht bloss noch wer darf oder muss. Okay, die haben jetzt dafür diese wunderbaren Hinterhofkonzerte erfunden bei denen man gemeinsam auf dem Balkon musiziert. Vielleicht wurden aber auch schon neue Stars geboren, vielleicht wird ja die Rimbamband die mit der „My Sharona“-Persiflage „Virus Corona“ für Aufsehen sorgte das nächste grosse Ding da unten im Stiefel.
Ich selber bin in der Radiobranche tätig und erlebe derzeit hautnah wie ganze Zweige der vielschichtigen Unterhaltungsindustrie vor die Hunde gehen. Terminierte Konzerte und Fussball-, Eishockey- oder Handball-Spiele wurden anfangs nur verschoben, mittlerweile ist aber dem letzten klar geworden, dass „verschoben“ vermutlich nichts anderes bedeutet als „Absage“. Die diversen Sportmeisterschaften werden mit ziemlicher Sicherheit im historischen Pandemie-Jahr 2020 ohne „Meister“ bleiben, tausende Firmen und Sportclubs werden dadurch in finanzielle Abgründe stürzen, der Sog wird aber auch alle verbandelten Zulieferer etc. erfassen. Man kann es drehen und wenden wie man will, ob die globalisierte und vernetzte Weltwirtschaft bloss mit einem blauen Auge davon kommen wird, wage ich zu bezweifeln.
Der Tour-Bericht der holländischen Rockband DeWolff über den ich gestolpert bin lässt diesbezüglich nichts Gutes erahnen. DeWolff fuhren in der vergangenen Woche auf ihrer Tour von einem Veranstaltungsort zum anderen, bloss um jeweils festzustellen, dass die Gigs nicht durchgeführt werden durften. Ein einziger Auftritt in Prag fand statt, am Tag darauf wurden die tschechische Grenze geschlossen. Anstatt die Irrfahrt in Deutschland fortzusetzen, entschloss sich das Trio zum Abbruch der Gastspielreise. In Maastricht wurde schnell und spontan ein Auftritt (ohne Publikum) aufgezeichnet und kostenlos ins Netz gestellt, ein kleines Dankeschön an die Fans. Per Spendenaufruf versuchen die Musiker nun das erlittene finanzielle Disaster etwas abzumildern, mit der Tour hätten die Kosten für das kürzlich veröffentlichte Album eingespielt werden sollen. Ich bin ja gespannt ob DeWolff ihre Tournee fortsetzen können, den Termin im Mai hier in der Gegend hatte ich mir auf Fälle schon länger vorgemerkt, mal schauen.
Der Grossteil der US-amerikanische Bands auf Europa-Gastspielreise waren die letzten Tage hauptsächlich damit beschäftigt noch irgendwo einen Flug zurück in die Heimat zu erwischen. Twin Temple hatten übrigens ihre Tournee noch zu Ende gebracht, die Truppe ist derzeit (noch) in den Staaten unterwegs. Zurück bleibt ein kulturelles Schlachtfeld, nicht nur hier in Europa, sondern rund um den Erdball. Es ist zu befürchten, dass es nie mehr so sein wird wie zuvor, die Kulturszene wird auf die eine oder andere Weise Schaden nehmen. Die Corona-Epidemie könnte aber auch das einschneidende Ereignis sein an dem Weichen gestellt werden. Es wird Kulturschaffende geben die sich zurückziehen aus dem Business, es werden aber garantiert auch neue Namen auftauchen. Viele werden mit ihren (noch nicht geschriebenen) Liedern und Melodien helfen die Menschheit bedrohlichen Abschnitt der Geschichte irgendwie zu verdauen und aufzuarbeiten.
Aha, eben die neuesten News gehört, ab dem 16. März machen die meisten innereuropäischen Grenzen dicht. Dann muss ich heute Abend wohl noch die Geschäftsmails checken, den lange nicht mehr verwendeten Digitalrecorder habe ich bereits am Nachmittag einem Funktionscheck unterzogen. Es bleiben die üblichen Fragen: Werden die Massnahmen bei uns im Radio nun auch verschärft? Das oberste Ziel ist jederzeit „on air“ zu sein, ohne Unterbruch seit 1984 übrigens, eine Frage der Ehre, falls alle Stricke reissen sollten eben mit einem Notprogramm das wir von extern produzieren. Oder versuche ich bereits ab Montag meinen kleinen Produktionsbetrieb mittels Home Office zu betreiben? Ich glaube ich bin gefordert, so oder so. Nein, eigentlich alle, die ganze Gesellschaft, egal wo auf diesem Planeten.
LONG LIVE ROCK… FIGHT THE CORONAVIRUS!
mellow