2 Days Prog + 1 Festival – Klingende Orte 12

3 Tage Rock-Camp mit kirchlichem Segen ☺ Dolce Vita & italienische Lebensfreude ebenso

Piemont – Diese wunderschöne Region im westlichen Alpenwinkel, hat immerhin die zweitgrößte Fläche Italiens, eine naturgeografische dreiteilige Aufteilung und eine vierfache Sprachenvielfalt. Im Nordwesten angrenzend das Aosta-Tal, im Südosten die Emilia-Romagna, im Norden die Schweiz – sowohl an das Kanton Wallis als auch Tessin – im Süden an Ligurien, im Westen an Frankreich – die Provinzen Rhône-Alpes und Provence-Alpes-Côte d’Azur – und im Osten an die Lombardei. Sie gliedert sie sich in drei Teile: im Norden die Alpenregion mit ihren okzitanischen Tälern bis hin zum Lago Maggiore, mit den Bergen Monte Rosa und Gran Paradiso, gefolgt von der Po-Ebene, in der die meisten Menschen der Region leben, und dem Hügelland im Südosten, das vor allem landwirtschaftlich und touristisch genutzt wird. Geschichtlich ist das Piemont erst nach dem Zerfall des großrömischen Reiches aus der Unbekanntheit hervorgetreten. Strategisch gut gelegen, war diese Region immer ein Filetstück für die sich entwickelten Völker in der Nachbarschaft. Aber auch die weit entfernten Führer hatten diesen Landstrich immer im Blick. Die Habsburger kamen, der Savoyer Viktor Emanuel II. wurde König, die Weltkriege vergingen, erst in den 70er wurde dann das Piemont als eigenständiges Gebiet geschaffen. Hauptstadt ist La Città Dell’automobile Turin im südlichen Teil.

TDPP1: Banner 2022

Veruno – Ein kleines typisches idyllisches Dorf zwischen Lago Orta und Lago Maggiore. Das ganze Jahr über geht das Alltagsleben dort seinen ruhigen Gang, im einzigen kleinen Laden, der Bar im Zentrum bei der Chiesa Parrocchiale di Sant’Ilario di Poitiers trifft man sich, dort findet auch meist der klassische Teil des Dreifaltigkeitsfestivals statt, auch mal den hochwürdigen Monseniore. Einmal im Jahr ist die Ruhe der Bewohner aber gestört, wenn auf der Piazzetta Della Musica die große Bühne aufgebaut wird und das zahlreiche internationale Publikum in das Dorfzentrum zum 2 Days Prog + 1 Festival strömt. So war es von 1988 bis 2019. Dann kam das Bergamo-Desaster und 2020 die Covid-Pause. 2021 der Neustart im nahen Ortsteil Revislate auf dem öffentlichen Sportplatz neben der Chiesa Di Santo Stefano, mit einem reinen italienischen Programm ohne ausländische Beteiligung. Bodo berichtete darüber. Dafür aber 2022 ein Programm das sich europaweit sehen lassen kann. Und wir sind wieder dabei, reisen aus Kärnten quer durch die Alpen an. Richtung Lago Iseo wird der Himmel immer dunkler, wir entscheiden kurzerhand die Route über Bergamo und rund um Mailand zu ändern. Kurz vor Veruno bricht ein heftiges Sommergewitter über uns herein. Der Scheibenwischer arbeitet mit maximaler Geschwindigkeit, Sicht ist etwa fünf Meter. Ein Versuch auf das Camp zu fahren scheitert mit tiefen Spurrillen im Gelände. Übernachtet wird auf dem Parkplatz der Crew’s. Das war es dann mit schlechten Wetter, denn danach haben wir nicht nur den Premium-Stellplatz, sondern italienisches Bilderbuch-Wetter bis zur Abreise.

Mary & Franck trifft das italienische Crowd

Solstice trifft Tangerine Dream

Freitag – Sonnenschein mit Musik begrüßt den neuen Tag, Musiker und Techniker sind schon früh fleißig bei der Arbeit, das Camp ist auch gewachsen, Wohnfahrzeuge aus United Kingdom, Schweiz, Holland, Germanien, Italien sind dazugekommen. Gut das wir genug Elektro-Equipment dabeihaben, so können wir den hinteren Teil des Geländes komplett versorgen. Die Stimmung unter den Hippies ist wie gewohnt friedlich und erwartungsvoll. Wir müssen uns erst einmal an den ungewohnten Anblick am Sportplatz gewöhnen, richten uns im Campo Sportivo Revislate häuslich ein, treffen uns mit Organisator Alberto Temporelli und vielen Leuten die wir hier kennen. Schon die Eröffnung mit Retrospective aus Schlesien und The Fierce & The Dead aus London verkündet eine sehr rockige Eröffnung der inzwischen europaweit bekannten dreitägigen Veranstaltung. Nachdem Corona bedingt letztes Jahr ausschließlich einheimische Künstler das Programm bestritten (wir berichteten über die italienische Edition), ist man 2022 wie gewohnt international mit diesmal wieder Schwerpunkt Britannien. Tatsächlich schafft es dennoch ein polnisches Quintett am frühen Abend leicht & locker die bereits reichlichen Besucher im Gelände mächtig in Fahrt zu bringen. Und man merkt den jungen Musikern um die beiden stimmgewaltigen Vokallisten Beata Łagoda (auch Tastengeräte) und Jakub Roszak an, sie sind stolz sich hier endlich mal in der norditalienischen Rock-Arena präsentieren zu dürfen. Der druckvolle, sehr ausgewogene Sound ist von der zweiten Frau im Team optimal abgemischt und damit ist der Start in drei Tage puren Rock’n’Roll gelungen. Und der Polen-Express pflügt sich präzise wie immer durch die Lieder aus ihrer immerhin schon fast 20-jähriger Karriere. Im Mittelpunkt steht mit vier Titeln das noch aktuelle Album »Latent Avidity« (2019). Die Kompositionen werden federleicht und routiniert vorgetragen, im Hintergrund die sechs Akteure parallel auf dem leuchtstarken OLED-Panel, ein echt starker Beginn. Auch Oliver Wenzler, Label-Chef von Progressive Promotion Records, ist ein Lächeln ins Gesicht gemeißelt von diesem starken Auftritt begeistert. Das wiederholt sich mit seiner zweiten PPR-Truppe um Marek Arnold und bei einem Promo-Termin mit Sammary beim Veranstalter noch einmal am Sonntag. Nun muss sich der wilde Vierer mit Steuermann The Fierce & The Dead von der großen Nordsee-Insel danach richtig anstrengen. Mit ihrer Mischung aus Psychedelic-, Post-, Space- und Stoner Rock sowie vieler anderer moderner Musikstile erschaffen die fleißigen Kreativen meist instrumentale Landschaften, Gesang hört man hier eher selten. Mit stabiler Mannschaft werkeln Kev Feazey (Bass), Schlagzeuger Stuart Marshall, Gitarristen Matt Stevens & Steve Cleaton und das seit schon 2009. Musik eher zum Zuhören und eintauchen. Leider fällt ihr komplexer Vortrag in die Zeit als die meisten Besucher ankommen und erst einmal viel Unruhe verbreiten, dadurch ist konzentriertes genießen etwas erschwert. Auf der Bühne merkt man davon wenig, die Briten ziehen ihr Programm professionell durch. In der Pause ist an den Ständen einiges los, ebenso auch im riesigen Zelt neben der Bühne. Dort gibt es traditionell italienische Gerichte, werden dort für Kauf-Coupons von Schülern direkt an den Tisch gebracht. Eine fantastische Idee !!

Retrospective: Jakub Roszak (PL)

The Fierce & The Dead: Matt Stevens (UK)

Nach einer Stärkung, geht es mit zwei britischen Legenden weiter. Hits wie »Death Walks Behind You«, »Tomorrow Night«, »Breakthrough«, »Black Snake«, »Devil’s Answer« waren Anfang der 70er Dauerbrenner in Radio und Disco, aber kaum einer wusste welche Band dahintersteckte. Noch weniger war bekannt, das Carl Palmer dort kurz getrommelt hatte, Blues-Röhre Chris Farlowe auch ein Zwei-Album-Gastspiel dort gab und Keyboarder Vincent Crane zusammen mit Arthur Brown den Welthit »Fire« in die Musikwelt brachte. Unglaublich aber wahr, mit Sänger Peter French und Gitarrist Steve Bolton, immer noch in bestechender Souveränität, steht die Rock-Legende Atomic Rooster mit diesen zwei Urgesteinen auf der Bühne. Leider haben wir in der Pandemie die Briten immer wieder verpasst, jetzt hat es endlich geklappt, und das Warten hat sich echt gelohnt. Ein Hit-Feuerwerk Non-Stopp und alles in exzellenter Qualität, zuletzt »Fire«, dass wir gerade zwei Wochen vorher mit dem agilen Arthur Brown beim Woodstock Forever Festival erlebt hatten, wir berichteten auch in Heft 147 darüber. Ich treffe später Peter und Steve, wir quatschen kurz, drei alte Männer in denen der Rock’n’Roll immer noch lodert, vergesse dabei sogar ein Foto zur Erinnerung zu machen. Der junge Keyboarder Adrian Gautrey hat mit seiner Hammond Orgel passgenau das Klangbild erzeugt, was für Atomic Rooster damals so typisch war. Auch seine Wünsche nach stimulierenden Stoffen können wir im Camp erfüllen, feiern mit ihm und den niederländischen Crazy Prog-Frogs diesen wunderbaren Abend unter dem Segen des rhythmischen Glockenschlags der Chiesa Di Santo Stefano. Atempause, nein heute sicher nicht, denn gefühlt Übergangslos steht mit den Space-Rock-Gründer Hawkwind die nächste britische Legende vor dem inzwischen restlos begeisterten Publikum. Auch hier eine Kette von bekannten Klassikern, aufgeführt vom Kommandanten Dave Brock, um ihn herum mal wieder die leidenschaftlichen Mitstreiter Richard Chadwick, Magnus Martin, Thighpaulsandra (Cope, Coil, Spiritualized), Doug McKinon aus seinem vielköpfigen Habicht-Stamm. In einem Meer spektakulärer, bunter Beleuchtung, Laserstrahlen und psychedelischen Lichtkaskaden begleiten uns die langen und hypnotischen Improvisationen bis in die späte Nacht, zuletzt unvermeidlich natürlich noch »Silver Machine« als das von allen erwartete silberne Transportmittel in die Morgenstunden. Wir fühlen uns im Camp zurück in die 70er versetzt, nur alles viel bequemer, der Sound glasklar, bärenstark und um Lichtjahre besser. Wir sind schon jetzt begeistert und freuen uns auf den langen Tag morgen.

Atomic Rooster: rechts Pete French (UK)

Hawkwind: Dave Brock (UK)

Samstag – Der mittlere Tag beginnt für uns schon am frühen Nachmittag im Auditorium Forum 19. Dort hatte am Vortag schon die bayrische Blues-Rock-Band The Sonic Brewery aus Eggenfelden druckvoll aufgespielt. Dorthin locken uns nun Mary Reynaud & Frank Carducci mit der Ankündigung eines speziellen Akustik-Programms. Eine echte Wundertüte dieses sympathische Pärchen aus Lyon, die nicht nur wir im Laufe der nächsten zwei Tage immer wieder als fleißige Werber im Gelände trafen. Hier im Dorfzentrum von Veruno wird uns vor der heutigen Freiluftveranstaltung dort in Club-Atmosphäre das Verbindungsglied zwischen ihrer klassischen Rockband und der facettenreichen Rock-Revue präsentiert, und wie. Eingebettet in minimalistischer Beleuchtung und dezente Perkussion, zwei voluminöse akustische Gitarren, zwei außergewöhnliche Stimmen Solo und im Duo, animierten das Fach-Publikum im kleinen Saal zu wahren Begeisterungsstürmen. Präsentiert wurde ein Lieder-Potpourri dieser beiden charismatischen Musiker, die ausdrucksstark und virtuos vorgetragen wurden. Als Zugabe noch »Wish You Were Here« von Pink Floyd. Da kann man sich auch auf die Hauptspeise Carducci & The Fantastic Squad freuen, wenn sie denn demnächst auch mal die deutschen Bühnen erobern. Danach mit einer Bühne voll erfahrenen Personal setzen Aquael (ab 1999 auch Maury E I Pronomi) mit ihrem anschließenden Auftritt symphonische Rock-Akzente. Die vier prägenden Figuren dieser Turiner Prog-Kapelle sind seit 1978 Projektleiter Maurizio Galia (Keyboards, Gesang) sowie Enrico Testera (Bass), Nicola Guerriero (Gitarre), Sergio Cagliero (Keyboards). Das alte Material wurde gerade als »Anthology« neu veröffentlicht und mit Schlagzeuger Daniele Vasapollo und Sängerin Federica Gili wird es aktuell in ganz Italien auch Live präsentiert. Das ist der Zauber vom Forum 19, das ist Verdienst von Alberto, der immer wieder funkelnde Italo-Prog-Perlen aus dem Hut zaubert.

Mary Reynaud & Franck Carducci (FR)

Aquael: Maurizio Galia & Enrico Testera (IT)

Das passt zu den Mailändern Psicosuono am nächsten Tag ebenfalls, die wir aber wegen eines parallelen Promo-Termins für Progressive Promotion Records mit Sammary leider nicht erleben können. Wir wechseln den Ortsteil und von Drinnen nach Draußen, sind pünktlich zum Beginn der jungen Waliser Alternativ-Rocker Godsticks wieder aufnahmebereit für komplizierte und doch zugängliche Musik, eine Fülle von Melodien, mit Präzision und Elan gespielt. Das Quartett repräsentiert die junge Garde von Rockern, die wie andere versuchen ihren Musikstil zu finden und zu festigen. Das haben sie seit 2008 mit insgesamt sechs Studio-Alben für die Nachwelt festgehalten und eine Auswahl davon spielen sie heute für die internationalen Besucher hier im Piemont. Und das ist auch eine Stärke dieser Veranstaltung, Klassiker und Newcomer, Rockmusik in einer enormen Bandbreite von Avantgarde bis Pop-Rock, grenzüberschreitende Formationen, Weltstars neben unbekannte Nischenprojekte. Und alle werden bestmöglich in Klang und Licht präsentiert, die Mikros gehen kollegial von Hand zu Hand. Deshalb passend nun zu einer mir bisher unbekannten sehr ungewöhnlichen Underground-Band namens Asia Minor aus Großraum Paris, nicht Kleinasien. Die versuchten schon Ende der 70er mit Musik zweier Alben die beiden Kulturkreise Orient und Okzident modern zu verschmelzen. Und das gelang den fünf Musikern aus Türkei und Frankreich nach 40 Jahren mit »Points Of Libration« erneut übergangslos sehr gut. Die beiden kreativen türkischen Gitarristen Eril Tekeli (+ Flöte) und Setrak Bakirel (+ Gesang) erschufen dabei wieder eine Mixtur aus östlichen Einflüssen und Rhythmik sowie typischen Prog-Elementen. Und genau dieses Album spielen sie hier in Veruno komplett. Das Fundament wird von Bass-Dame Evelyne Kandel und Schlagfrau Camille Bigeault geliefert und mit dreisprachigen Gesang ist nun der Begriff Exotik durchaus angebracht. Der Vortrag des Quintetts ist mehr als solide und ich finde es wunderbar, endlich wieder einmal etwas Besonderes. Ganz nach meinem Geschmack. Und mit Frauen-Power von Sirene Christina Booth und ihren vier Musketiere namens Magenta geht es weiter im Programm.

Godsticks: Gavin Bushell (UK)

Asia Minor: Eril Tekeli (FR)

Zum ersten und einzigen Mal heute reinrassiger Prog. Das Kreativ-Trio Robert Reed, Chris Fry, Booth wird ergänzt durch Dan Nelson von Godsticks am Bass und Trommler Jiffy Griffiths. Sie spielen sich durch den gesamten Band-Katalog, schließen mit einem Potpourri vom Klassiker »Revolutions« und dann noch das King-Crimson-Cover »The Lizard King« als Zugabe. Wir haben bereits am Vormittag den Soundcheck des Quintett Gong sehr genau verfolgt, konnten sogar auch mit der Band sprechen. Nicht ohne Grund, denn wir verfolgen nunmehr seit fast 20 Jahren intensiv die Arbeit von Daevid Allen, Steve Hillage, Kavus Torabi und seine illustre Schar von Gongianern, sind immer wieder begeistert auch von der nächsten Gong-Generation. Und wie Kavus uns vorher versprochen hatte, Gong-Reloaded liefert, und das Gong-Typisch. Das Quartett spielt fast das komplette Studio-Album »The Universe Also Collapses« (2019) in der ihnen eigenen eruptiven Art und Weise. Wer nicht in Veruno bei diesem Spektakel dabei war, dem empfehle ich das Live Album »Pulsing Signals« (2022), das enthält praktisch fast alle Titel des phänomenalen Konzerts. Es ersetzt natürlich nicht dieses einmalige Gong-Erlebnis. Und es wird auch deshalb ein unvergesslich-magisches Konzert, weil Publikum und Musiker in dieser lauen Nacht und der Kulisse mit beleuchteter Kirche verschmelzen. Kavus kommt mehrmals zu Ansagen nach vorne, streckt mit weit aufgerissenen Augen seine Arme aus wie ein Magier vom Planet den sie selbst in der Gnome-Album-Trilogie beschreiben und stellt diesen besonderen Moment für alle Anwesenden besonders heraus. Er sieht natürlich von seinem Spielpunkt aus das komplette bestuhlte Areal mit Publikum und den surrealen Hintergrund mit der stimmungsvoll beleuchteten Kirche mit Nebengebäuden, den stündlichen Gong vom erhabenen Glockenturm inklusive. Gong mit einer fulminanten Show die für uns unvergesslich bleiben wird, Magic Moon und Kirchenglocken im Stundentakt inklusive. Für viele Besucher war es das Highlight des Festivals, ebenso für uns. Wir lassen den langen ereignisreichen Samstag im Camp ausklingen, beobachten wie die Gong-Gang mit illustren Gästen Arm in Arm feiernd in der Dunkelheit verschwinden. Es hat also nicht nur uns sehr gut gefallen.

Magenta: Chris Fry & Christina Booth (UK)

Gong: Kavus Torabi (UK)

Sonntag – Gibt es zu den beiden vorangegangenen wunderbaren Tagen noch Luft nach oben, schwer vorstellbar. Ich bin im Gelände unterwegs und es wird wieder für den Abend die Technik gecheckt. Und es wird immer lauter, rhythmischer, Bass-lastiger, die Motive sind etwas schwer zu identifizieren, aber dann macht es Klick, Zeitreise in die Mitte der 70er, ja das ist doch Tangerine Dream. Ich stürme zur Bühne, tatsächlich stehen dort die zierliche japanische Violinistin Hoshiko Yamane links freistehend, mittig Thorsten Quaeschning und rechts Paul Frick hinter riesigen Türmen Tastengeräten, Kabelwürsten, Elektronik-Equipment. Thorsten sieht mich vorne auf den Bass-Boxen rumzappeln, wechselt zu einem fetten Bass-Motiv und legt noch nee Schüppe mehr Druck drauf. Ich zittere wie Espenlaub, mache trotzdem ein paar tolle Bilder. Thorsten zeigt mir den Daumen nach oben und lächelt, ich ebenso. Aus dem Dialog vom Bühnen-Monitor erfahre ich, dass es ein technisches Problem gibt und Thorsten das empfindliche analoge Equipment dreimal wieder hochgefahren musste und das Trio nun gestandene fast zwei Stunden an ihren Geräten standen. Bei Hoshiko und Paul scheint alles in Ordnung zu sein, aber Thorsten ist etwas genervt, dennoch sehr geduldig bis alles einwandfrei läuft. Ich bin jetzt schon gespannt auf den letzten Auftritt des Tages. Tangerine Dream Reloaded in klassischer Trio-Besetzung. Bei meinem letzten Mal unter freier Luft war noch Edgar Froese dabei, das jetzige Trio hat damals schon zusammen mit ihm musiziert. Auch ein Auftritt den ich als TD-Fan der ersten Stunde nie vergessen werde. Heute haben wir auch einen Promo-Termin mit Oliver Wenzler beim Veranstalter-Team des 2 Days Prog + 1 Festival, stellen dort kurz Progressive Promotion Records und mit Sammary (siehe Bericht Heft 145) eine junge Band aus dem Rheingau vor. Im Camp treffen wir auch Kristoffer Gildenlöw und seine Mannschaft, über den es später noch erfreuliches zu berichten gibt. Ich frage ihn ob er nervös sei: nein meinte der Hüne aus Schweden, ich freue mich sehr drauf. Den Anfang macht heute eine Formation um den Vielarbeiter Marek Arnold (siehe Rezension »Ziele«), der mit seinen sechs Kollegen als Seven Steps To The Green Door die Tür für den musikalischen Sonntag bei schönsten Wetter öffnet. Wunderbare Kompositionen, vorgetragen von drei Frontsänger/innen, von fünf Instrumentalisten druckvoll und spielfreudig präsentiert. Im Zentrum stehen Teil 1 (2011: The? Book) und Teil 2 (2019: The? Lie) ihrer Konzept-Trilogie, dessen dritter Teil nun kurz vor der Veröffentlichung steht. Wie immer vergeht bei dieser Formation die Zeit wie im Flug, vielleicht liegt es an der Ausgewogenheit der Kompositionen und deren Umsetzung durch die sieben Akteure. Woran denkt man wenn man als Musik-Liebhaber Gildenlöw hört. Genau, zuerst einmal an einen jungen gutaussehenden schwedischen Gitarristen namens Daniel, der darüber hinaus mit seiner sehr Metallorientierten Rockmusik die Massen bisher fast drei Jahrzehnte begeisterte. Ähnliches erwartete man auch von seinem jüngeren Bruder Kristoffer, der immerhin fast 15 Jahre den Bass bei Pain Of Salvation zupfte und mit vier Kollegen aus den Niederlanden nach Veruno angereist war, die immer mal wieder im Camp auftauchten. Und was für eine positive Überraschung als er sein unerwartetes Programm auf der italienischen Bühne beginnt. Es knüpft nahtlos an den Auftritt von Seven Steps To The Green Door an. Leise Töne und ausdruckstarker Gesang wechseln mit vorzüglicher Gitarrenarbeit an mindestens 10 verschiedenen Gitarren, von Bass bis zum 12-saitigen Akustikgerät. Er ist weiterhin ein exzellenter Sänger, der dynamisch alle Stil und jede Klangfarbe beherrscht. Nicht von ungefähr ist er eine der Frontstimmen der niederländischen Legende Kayak. Und er rollt mit seinen Kollegen einen schönen Sound-Teppich bis weit in das Publikum aus, der sodann viele animiert, trotz früh im Tagesprogramm näher zu kommen und hängen zu bleiben. Die Band präsentiert vor allem aktuelles Material der beiden letzten Solo-Alben »Homebound« (2020) und »Let Me Be A Ghost« (2021). Zum Abschluss gibt es noch mit »Ashes« ein Lied von Pain Of Salvation, dazu kommt noch als Gast-Sänger Valerio Sgargi auf die Bühne. Dafür ist der Lohn beim Abschluss des bemerkenswerten Vortrages ein Begeisterungssturm der Zuschauer. Damit hat Kristoffer Gildenlöw sicher die Fahrkarte gelöst für viele weitere Veranstaltungen 2023, denn so eine versierte und spielfreudige Truppe möchte fast jedes Festival auf seiner Bühne präsentieren. Für mich eine der positivsten Überraschungen des Festivals.

Seven Steps TT Green Door: Marek Arnold (DE)

Kristoffer Gildenlöw Band: Kristoffer Twin (SW/NL)

Die Sonnenwende Sommer/Winter haben wir knapp verpasst, aber nicht so die progressive Rock-Formation Solstice um den Gründer Andy Glass. Wir haben diese englische Band schon am 04. September 2010, damals mit Sängerin Emma Brown, einmal erlebt und waren überrascht, wie auch Fan Steven Wilson mehrere Male, über die Musik zwischen sanften Melodien und rockigen Elementen. Die aktuelle Besetzung besteht im Kern aus der quirligen Frontfrau Jess Holland sowie den Urgesteinen Violinistin Jenny Newman, Keyboarder Steven McDaniel, Bassist Robin Phillips, Schlagzeuger Pete Hemsley und sie bringen noch zwei weitere Sängerinnen als Verstärkung mit nach Veruno. Und zur Freude des Publikums wird es erneut ein unglaubliches Erlebnis wie am Vortag bei Gong. Das gemischte Doppel, jeweils in Quadro-Format, spielt sich quasi in einen kollektiven Rausch. Das Publikum wird wie in einem Tornado mitgerissen, alle rotieren in Sichtweite um ein gemeinsames unsichtbares Zentrum. Hier jemanden herauszustellen würde die Leistung des Einzelnen herabwürdigen. Allein die Vokalleistungen aus einem halben Dutzend Kehlen ist herausragend. Gespielt werden natürlich Klassiker wie »Guardian«, »Sacred Run« sowie »Shout«, »Cheyenne 2020«, »A New Day« vom letzten Album »Sia« (2020), aber auch ganz neue Titel. Eine Ode an Festivals »Mount Ephraim«, »Light Up« und »Bulbul Tarang«, benannt nach dem Instrument das Andy Glass dabei spielt, alle drei von einem bisher unveröffentlichten Album. Sia ist Gälisch und bedeutet »Sechs«. Warum sechs, nun es ist das sechste Studio-Album von Solstice, das sechs neue Stücke enthält, viele davon im Sechsertakt. Und es gibt natürlich sechs Mitglieder der Band. Andy und seine Mannschaft haben sich hier im Piemont übertroffen, er schrieb mir: „Veruno war für uns alle eine magische Erfahrung.“ Mehr muss man dazu nicht mehr sagen, Magie auf beiden Seiten, vor und auf der Bühne.

Solstice: Andy Glass (UK)

Tangerine Dream: Paul Frick (DE)

Noch während des Auftritt von Solstice sehen wir im Hintergrund das Trio aus Berlin beim Warmmachen, treffen auch wieder Kavus und seine illustre Schar von Gongianern. Auch sie sind gespannt was nun hinter den Türmen von Elektronik und Tastaturen passieren wird. Wir auch, denn nach nur kurzer Pause startet die italienische Mission von Tangerine Dream. Es ist natürlich alles wie immer bei den Elektronik-Pionieren. Dezente, fast kuschelige Beleuchtung, Laserstrahlen, dazu im Hintergrund Videofilme und drei Silhouetten im Dunst der Nebelmaschinen bei denen sich gelegentlich der Schattenwurf ändert. Die drei Musiker haben praktisch keine Interaktion untereinander, wie denn auch. Das ist der komplette Gegensatz zu fast allen Formationen dieser drei Tage, besonders aber zu Gong und Solstice. Die Klanggebilde sind aber vom ersten bis zum letzten Ton auch wie immer über jeden Zweifel erhaben. Es ist wieder einmal eine Lehrstunde der Perfektion von elektronischer Musik. Hoshiko Yamane links, mittig Thorsten Quaeschning, rechts Paul Frick zelebrieren diese Party mit einer fast 2,5-stündige Reise durch ihren weiten Klangkosmos. Oft gibt es bekannte Strukturen, die aber schnell in modernere musikalische Landschaften führen. Wer sich an alte Zöpfe klammert, könnte enttäuscht worden sein, wir aber sind begeistert von den modernen Interpretationen der Klassiker und diesem Inferno an Rhythmen, Klängen, Strukturen. Ein wie immer in Veruno würdiger Abschluss, diesmal Made In Germany. Ich hätte gerne noch von dem Trio ein paar O-Töne eingefangen, eventuell eine Set-Liste abgestaubt, weiß aber um die scheue Art der Berliner Künstler. Am nächsten Tag streune ich noch einmal um die verwaiste Bühne herum, sehe ein offensichtlich leeres einzelnes Blatt Papier in einer Ecke an der Bühne liegen. Ich hebe es auf und habe die handschriftliche Set-Liste von Thorsten in Händen. Ich sehe ihn vor meinen geistigen Augen lächeln und mir den Daumen nach oben zeigen. Kommt mir bekannt vor, du Klang-Magier aus der großen Stadt an der Spree.

Frauen Power: Beata Łagoda

Frauen Power: Camille Bigeault

Frauen Power: Evelyne Kandel

Fazit – Wieder einmal hat sich die lange Anreise zur Südspitze des Lago Maggiore mehr als gelohnt. Uns gefällt dieser neue Veranstaltungsort trotz anfänglicher Skepsis doch sehr gut, in einigen Belangen ist er sogar besser als im Zentrum von Veruno. Das Programm war über alle 17 Bands sehr wertig und ausgesprochen gut über die drei Festival-Tage sortiert. Die Technik hat für brillantes Licht und Ton gesorgt und damit die Grundlage geliefert für einmalige Konzerterlebnisse. Hoffen wir das alle von Unruhen in Europa, Pandemien, Wetterkatastrophen oder sonst was verschont bleiben und 2023 wieder ein Musikfest in Revislate auf dem öffentlichen Sportplatz neben der Chiesa Di Santo Stefano stattfinden kann. Wir sollten alle die Daumen drücken, gesund bleiben und wieder anreisen nach Bella Italia.

Weiterlesen RZ: Klingende OrteNight Of The Rock 2020 – Zeitlose Grüße, Der SchoTTe

Frauen Power: Mary Reynaud

Frauen Power: Jess Holland

Frauen Power: Jenny Newman

Künstler – Freitag: Retrospective — The Fierce & The Dead — Atomic Rooster — Hawkwind — Samstag: Godsticks — Asia Minor — Magenta — Gong — Sonntag: Seven Steps To The Green Door — Kristoffer Gildenlöw & Band — Solstice — Tangerine Dream — Auditorium Forum 19: The Sonic Brewery — Aquael — Mary Reynaud & Franck Carducci — Psicosuono – VER1 Musica

Fotostrecke BK Eventphoto Bodo Kubatzki

Retrospective (PL)

The Fierce & The Dead (UK)

Atomic Rooster (UK)

Hawkwind (UK)

Reynaud & Carducci (FR)

Aquael (IT)

Godsticks (UK)

Asia Minor (FR)

Magenta (UK)

Gong (UK)

Seven Steps To The Green Door (DE)

Kristoffer Gildenlöw Band (SW/NL)

Solstice (UK)

Tangerine Dream (DE)
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