Irène Schweizer (2. Juni 1941 – 16. Juli 2024)

Irène Schweizer (2. Juni 1941 – 16. Juli 2024)

Es gibt so Menschen, da denkt man, sie überleben einen locker. Die Musikerin Irène Schweizer war so ein Mensch. Sie hat meine musikalische Sozialisation begleitet, seit ich in den 70ern mit Jazz in Berührung kam. Und das mir, der mit Pianojazz nun nicht so arg viel anfangen kann. Gut, es gibt Ausnahmen und Irène Schweizer war immer präsent. Ihre ganze Karriere als Musikerin, ihr ganzes Leben, ihr künstlerischer Anspruch und ihre Diversität sucht wohl ihresgleichen. Ein Leben angefangen zu einer Zeit als sich noch niemand vorstellen konnte, dass eine Frau ihr Leben mit Jazzmusik bestreiten könnte, wohl inklusiv Frau Schweizer. Und trotzdem, sie hat es geschafft und wie. Jazz im Spannungsfeld zwischen Improvisation, Free und Notation. Unbeirrbar und, wie jemand schrieb, fadengerade.

Ich habe mir lange überlegt wie ich diesen Beitrag gestalten soll und tatsächlich ist es eine der härtesten Herausforderungen geworden. Nicht, weil ich nicht wüsste was zu schreiben wäre. Wohl eher, dass ich höchstwahrscheinlich einfach den Faden verloren hätte und ich nicht zwanzig Folgen in Ueberlänge zu ihrem Leben und ihrer Musik schreiben könnte. Wollen schon, können auch, aber der Rockzirkus Blog ist nicht dafür eingerichtet, ich müsste mich da schon an ein Buchprojekt machen. Andererseits ist schon so viel über Irène Schweizer geschrieben worden, ich überlasse das Anderen.

Einen Entschluss habe ich früh gefasst, der Beitrag erzählt nicht das Leben der Musikerin und geht auch nicht auf die komplette Discografie ein, so weit reicht das Budget des Rockzirkus jetzt auch wieder nicht. Ich beschränke mich hier grösstenteils auf die Aufnahmen von ihr mit dem London Jazz Composers Orchestra (4 CDs) mit ein paar Zusatzinformationen. Hier mal zuerst ein kurzer und bei weitem nicht vollständiger Abriss ihrer Tonträgerveröffentlichungen (aber Achtung, nicht alle diese Tonträger sind unter ihrem Namen als Leaderin veröffentlicht worden):

Tatsächlich habe ich diese LP in meiner Sammlung gefunden:

Irène Schweizer Trio – Early Tapes – FMP – FMP 0590 (aufgenommen 26. Januar 1967 aber erst 1978 veröffentlicht – mit Mani Neumeier und Uli Trepte)

Ramifications – Ogun – OG 500 – 1975
Messer – FMP – 1976
Wilde Señoritas – FMP – 1977
Hexensabbat – FMP – FMP 0500
Tuned Boots – FMP – 1978
The Very Centre Of Middle Europe – Hat Hut Records – 1978
Santana – Pip – 1979
Die V-Mann Suite – FMP – 1981
Live At Taktlos – 1986
Irène Schweizer & Louis Moholo – Intakt Records – 1987
The Storming Of The Winter Palace – Intakt Records – 1988
Irene Schweizer / Günter Sommer – Intakt Records – 1988
Cordial Gratin – FMP – 1988
Irene Schweizer / Andrew Cyrille – Intakt Records – 1989
Paris Quartet – Intakt Records – 1989
Overlapping Hands: Eight Segments – FMP – FMP CD 30 – 1991
Theoria – Intakt Records – 1992
Piano Solo Vol. 1 – Intakt Records – Intakt CD 020 – 1992
Piano Solo Vol. 2 – Intakt Records – Intakt CD 021 – 1992
Irène Schweizer & Pierre Favre – Intakt Records – 1992
Les Diaboliques – Intakt Records – 1994
Irène Schweizer & Han Bennink – Intakt Records – 1996
Many And One Direction – Intakt Records – Intakt CD 044 – 1996
European Masters Of Improvisation – Captain Trip Records, Tokyo Tower Wax Museum – CTCD-068, TWAX-002 – 1997
Double Trouble Two – Intakt Records – 1998
Ensemble Oggimusica Meets Irene Schweizer – Altrisuoni – AS 054 – 2000
Chicago Piano Solo – Intakt Records – 2001
Twin Lines – Intakt Records – Intakt CD 073 – 2002
Ulrichsberg – Intakt Records – 2004
Where’s Africa – Intakt Records – Intakt CD 098 – 2005
First Choice – Piano Solo KKL Luzern – Intakt Records – Intakt CD 108 – 2006
Willisau & Taktlos – Intakt Records – Intakt CD 104 – 2007
Berne Concert – Intakt Records – Intakt CD 150 – 2009
Radio Rondo / Schaffhausen Concert – Intakt Records – Intakt CD 158 – 2009
Jump! – Intakt Records – Intakt CD 194 – 2011
To Whom It May Concern: Piano Solo Tonhalle Zürich – Intakt Records – Intakt CD 200 – 2011
Live In Zürich – Intakt Records – 2013
Spring – Intakt Records – 2014
Welcome Back – Intakt Records – 2015
Musical Monsters – Intakt Records – Intakt CD 269 – 2016
Live! – Intakt Records – 2017
Celebration – Intakt Records – 2021

Die grossen Clusters sind natürlich Veröffentlichungen auf FMP und Intakt. Letztere vermutlich alleine schon deswegen, weil Irène Schweizer Mitbegründerin des Labels war. FMP war natürlich eine grosse Nummer anno domini und es kam wahrscheinlich einem Ritterschlag gleich, wenn man dort veröffentlichen konnte. Aber man darf auch nicht vergessen, Jazz war damals vielleicht noch mehr eine Nischenmusik, als dass sie es heute ist Und Improvisation und Free waren wohl des Teufels. Die Captain Trip CD (aus Japan) sieht mir eher nach einer illegalen Ausgabe aus und liegt irgendwie quer in der Landschaft. Ich würde mal meinen, der/die Interessierte sollte den Browser für weiterführende Veröffentlichungen auf Discogs stellen.

Die Anfänge von Frau Schweizer im Handörgeli-Club Schaffhausen und ihre weitere Entwicklung zum Jazz und dem Piano ist ausgesprochen lesenswert und ich verweise auf ein sehr interessantes Interview in der WOZ #20 vom 19. Mai 2016 (das Interview ist online noch abrufbar und eine Empfehlung von mir, wenn man sich die Geschichte der Musikerin im Schnelldurchlauf lesen will, und ist gespickt mit Informationen). Nur ein Zitat daraus “Auf meinem eigenen Flügel spiele ich daheim nicht, daheim zu spielen, widerstrebt mir. Wenn mich Leute fragen ‘Wieviel übst du?’, sage ich: Gar nicht!”. Vieles davon war mir neu, so z.B. Mitschnitte vom Zürcher Amateur-Jazzfestival und auch “Jazz Meets The World” auf MPS 1967. Bei den MPS-Aufnahmen bin ich mir allerdings nicht sicher, ob ich die LP nicht schon mal gesehen habe, aber wahrscheinlich in einem schlechten Zustand und einem Preis der so gar nicht mit dem qualitativen Zustand des Angebots übereinstimmte.

Irène Schweizer war neben vielem auch die Mitbegründerin des “Taktlos” Jazzfestivals (und dem “unerhört”, von dem ich aber noch nie was mitbekommen habe). Das “Taktlos” lief während ein paar Jahren an jeweils drei Tagen in Basel, Bern und Zürich und war das Highlight der neuen Musik zwischen Jazz und der Peripherie. Jahrelang war das Festival für mich gesetzt, bis der Veranstalter in Basel ausstieg und ein paar Jahre danach auch der in Bern das Handtuch warf. Das “Taktlos” existiert in einer ziemlich abgespeckten Version noch in Zürich, aber das Programm hat seinen Anspruch etwas verloren. Wieso ich das hier einwerfe? Es war am “Taktlos” wo ich Frau Schweizer live gesehen hatte, ich glaube, dass das im Duo mit Han Bennink war. Möglicherweise auch mehr als einmal, erinnere ich mich doch auch noch an andere Gigs von ihr. Und natürlich dem London Jazz Composer Orchestra mit dem Irène Schweizer doch so einige Aufnahmen gemacht hat. Eben dieses LJCO hatte ich damals auch am “Taktlos” gesehen, aber in einem anderen Jahr und “leider” ohne Frau Schweizer.

Bemerkenswert, neben ihren vielen Solo, Duo und Gruppeneinspielungen, sind vor allem die Kollaborationen von Irène Schweizer mit dem London Jazz Composer Orchestra (auch London Jazz Composers Orchestra oder London Jazz Composer’s Orchestra) oder kurz LJCO. Das LJCO wurde 1970 in London gegründet und war bis in die 90er-Jahre aktiv (und vereinzelt sogar noch darüber hinaus). Während dieser Zeit war Barry Guy (Bass) die antreibende Kraft (und auch der Gründer) und derjenige der das Grossorchester am Laufen hielt. Wobei “am Laufen halten” bei einem Grossorchester im Bereich Jazz ist mehr ein Wunschdenken als Realität. Ziemlich schnell nach der Gründung wurden die Auftritte quantitativ zurückgefahren oder manchmal mit reduzierter Mannschaft gegeben. Ein Orchester dieser Grösse lohnt sich finanziell eben nicht, trotz allem Enthusiasmus und Herzblut, dass da drin steckt. Um so erstaunlicher dass die Lebensdauer drei Jahrzehnte dauerte.

Die Musiker, die durch das LJCO durchgegangen sind, stellen die crème de la crème des britischen Free- und Improjazz dar. Alleine mit den Namen kann man eine Ahnengalerie der Besten aufstellen. Ich weiss nicht mehr wie ich auf das LJCO gekommen bin, aber es hat möglicherweise mit Mike Osborne zu tun gehabt, der da für einige Zeit mitgemacht hatte. Oder einer der vielen anderen Musiker. Wobei ich vorher Free- und Improjazz erwähnt habe, das war nicht wirklich so, die Stücke waren grösstenteils ausnotiert, aber der Gesamteindruck war tatsächlich manchmal so, als würde man einer Free- und Improvjazz Gruppe zuhören. Auch am Taktlos in Basel/Bern/Zürich, wo das LJCO einen ihrer raren Auftritte hatte. Die Musik changierend zwischen einer Wand und spärlich und hochpräzise und trotzdem sehr emotional.

Wie Irène Schweizer jetzt genau dazu kam, dass sie auf vier CDs des LJCO zu hören ist, dass entzieht mich meiner Kenntnis (möglicherweise ist dies in den Linernotes zu den Tonträgern nachzulesen, was ich jetzt aber nicht gemacht habe). Da das LJCO und auch Barry Guy selbst viel auf Intakt veröffentlicht hat, kam wohl der Kontakt über diese Schiene zustande. Allerdings ist davon auszugehen, dass sich die Musiker auch ohne Intakt Records schon kannten und sich begegnet waren. Es ist trotz allem eine kleine Welt, vor allem in der Jazz Szene. Die CDs des LJCO mit Frau Schweizer:

1) Theoria – Intakt – 1992
2) Double Trouble Two – Intakt – 1998
3) Study II / Stringer – Intakt – 2005
4) Radio Rondo / Schaffhausen Concert – Intakt – 2009 (Ausreisser, da wirklich erst in den 2000er Jahren aufgenommen)

Man könnte jetzt meinen, dass das LJCO ein Piano nicht wirklich gebrauchen würde, haben sie auch nicht wirklich, aber Irène Schweizer hat dem Orchester eine Farbnuance gegeben, die so nicht zu erwarten war. Obwohl die Musik an und für sich schon lyrisch gestaltet ist, hatte sie mit ihrem Pianospiel eine Dringlichkeit die vorher nicht in diesem Masse da war. Das LJCO war immer ein Orchester welches Jazz auf der Schiene Free und Impro mit Melodien verbunden hatte. Mit dem Piano von Frau Schweizer verstärkte sich das nochmal, obwohl sie als Pianistin natürlich auch anderst konnte und dies in unzähligen Veröffentlichungen und Liveauftritten bewiesen hat. Ich will hier keine wirkliche Empfehlung abgeben, entweder ist man vom Jazzvirus gebissen worden oder jeder Hinweis verpufft. Der/die Interessierte kann im Internet selber recherchieren und sich seine/ihre eigene Meinung bilden. Komm, Mist, ich würde bei den LJCO/Irène Schweizer Aufnahmen chronologisch vorgehen. Jedenfalls habe ich das damals so in Echtzeit abgearbeitet. Ob das jetzt The Real McCoy ist, das bleibe dahingestellt.

Der Hinweis auf das LJCO soll beileibe nicht heissen, dass das die Kernkompetenz von Irène Schweizer war, aber vielleicht ist es die zugänglichste. Sie hat Grenzen gesprengt, gebogen und Ansprüche an sich selber und die Zuhörer gestellt. Aber was soll man auch sagen über eine Person die sich über 50 Jahre im Dienst des Jazz gesehen hat und dabei immer eine Vorreiterin war. Es bleiben Erinnerungen an die Grande Dame des Pianojazz (komm, vergesst das), des Jazz. Man kann von Irène Schweizer mit Fug und Recht behaupten, so jemand kommt nie wieder.

Quellen:
a) Mein lieblingslinksradikales Blatt, die Wochenzeitung (WOZ) mit dem 2016er Interview, Kolumnen etc.
b) Mein Lieblingsjazzlabel in der CH, Intakt Records und deren Druckveröffentlichung “Unterwegs im Freien” von Patrik Landolt (im Untertitel “Zürich, New York, London, Berlin, 37 Jahre Musikproduktion von Intakt Records)
c) Nochmal Intakt Records mit deren Website und den darauf enthaltenen Informationen
d) Meine Schallplatten- und CD-Sammlung (seid ihr auch mal zu etwas gut, ausser Platzverschwendung) und da vor allem Intakt (aber auch FMP und was die Regale sonst noch so hergaben).

P.S: Das Eingangsbild zu diesem Beitrag zeigt Frau Schweizer zusammen mit Barry Guy, augenscheinlich bei einer Besprechung zu einer Partitur/Aufführung oder was auch immer.

(Visited 38 times, 1 visits today)

Ein Kommentar

Kommentar hinterlassen