Fühlte sich immer als Außenseiter, schafft aber Klanglandschaften der Superlative
Alan Charles Wilder – Er wurde am 01. Juni 1959 als jüngster von drei Brüdern in Hammersmith im Westen Londons geboren. Umgeben von einer Leidenschaft für alles Musikalische, etwas das in der Familie Wilder alltäglich war, war es unvermeidlich, dass er ermutigt wurde, in ihre Fußstapfen zu treten und schon mit 8 Jahren Klavier spielen zu lernen. Schon als 11-jähriger war er seiner Musikklasse bereits weit voraus, Flöte als zweites Instrument hinzugefügt und wurde bald ein führendes Mitglied seines Schulorchesters und deren 4-köpfigen Brass Band. Der normale Schulbetrieb war für Alan Wilder sehr zäh und nicht wirklich erfolgreich, deshalb bewarb er sich 16-jährig bei vielen Aufnahmestudios Großraum London, erhielt schließlich die Stelle als Studioassistent in den DJM Studios im West End. Er blieb dort nur ein Jahr bevor er nach Bristol zog, um sich dort den erfolglosen Rockern The Dragons (1977: DJM-Single-A »Misbehavin«, B: »Laid Back Lady«) anzuschließen. Zusammen mit dem Dragons-Basser Jo Burt kehrte Alan unter dem Pseudonym Alan Normal danach nach London zurück und beide schlossen sich der New Wave Truppe Dafne And The Tenderspots (1979: MAM-Single »Disco Hell«) an. An lauer Resonanz, Desinteresse des Publikums, Mangel an finanziellen Mitteln scheiterten wie viele andere Bands damals auch die Tenderspots. Bemerkenswert ist aber das Wilder beim Pop-Hit »If I Had You« (1979) der Korgis mitwirkte. Alan Wilder wandte sich deshalb seiner nächsten Gruppe Real To Real zu. Sie wurden von Red Shadow Records unter Vertrag genommen und veröffentlichten drei Singles deren Titel alle auch auf dem einzigen Album »Tightrope Walker« (1980) zu finden sind. Wegen ebenso mäßigen Erfolg erlitt Real To Real schließlich ein ähnliches Schicksal wie Alans frühere Bands, und er wandte sich neuen Aufgaben zu. Er spielte nun Keyboards bei der bereits etablierten, aber etwas behäbigen CBS-Retorten-Band The Hitmen, deren Leadsänger Ben Watkins später Juno Reactor gründete, eine frühere Mute-Band. Leider war hier trotz Major-Label Columbia auch hier nach zwei Alben Schluss. Die Musik war zwar nicht schlecht, aber auf der Welle mitreiten und dann mit Glück den Durchbruch zu haben, darauf hofften damals leider Tausende von gleichalterigen Musikern.
Depeche Mode – Als Depeche Mode Anfang 1982 einen Ersatz-Keyboarder für den Ende 1981 ausgeschiedenen Vince Clarke suchten und eine anonyme Anzeige im Melody Maker schalteten, meldete sich Alan Wilder. Zunächst wurde er als unterstützender Musiker für Auftritte engagiert, das Album »A Broken Frame« (1982) entstand noch ohne ihn. Kurz darauf wurde er aber vollständig in die Band integriert. Sofort übernahm er einen wesentlichen Teil im Studio, führte innovative Produktionstechniken wie das Sampling ein und prägte jahrelang den typischen Depeche-Mode-Sound. Auf dem 1993 erschienenen »Songs Of Faith And Devotion« spielte Wilder sogar Schlagzeug. An Wilders 36. Geburtstag, am 01. Juni 1995, gab er jedoch seinen Ausstieg aus der damals zerrütteten und kurz vor der Auflösung stehenden Band bekannt. Als Grund nannte er die zuletzt mangelnde Würdigung seiner Arbeit durch die anderen Bandmitglieder. Nun konzentrierte er sich als Ventil dafür, auf seine weniger poporientierten, experimentellen Kompositionen seines bereits Mitte der 80er begonnenes Projekt Recoil.
Recoil – Das musikalische Solo-Projekt von Alan Wilder, in der Hochphase dann bis 1995 Mitglied bei Depeche Mode, nennt er Recoil. Bereits seit den frühen 80er arbeitete Wilder neben der Arbeit bei Depeche Mode auch an eigenen Songs. Als Daniel Miller (Label-Chef Mute) einige Demo-Aufnahmen hörte, bot er Wilder an, diese neu zu produzieren und unter einem Pseudonym zu veröffentlichen. Im August 1986 erschien schließlich »1+2«, eine aus zwei 20-minütigen Songs bestehende EP. Schon 1987 folgte eine weitere EP »Hydrology«. Die CD- und Kassetten-Version erschien 1988 zusammen mit »1+2« als »Hydrology Plus 1+2«. Nachdem die ersten beiden Alben im Wesentlichen aus Fragmenten von Depeche-Mode-Songs bestanden, nutzte Wilder die Pause nach der »World Violation Tour« von Depeche Mode, um sich noch intensiver mit eigenem Material zu beschäftigen. Für das mit sieben Titel erste vollwertige Album »Bloodline« (1991), holte sich Alan für Recoil erstmals Gast-Vokallisten mit ins Studio. Den Cover-Song »Faith Healer« der Sensational Alex Harvey Band sang Douglas McCarthy, Sänger der Band Nitzer Ebb, während Toni Halliday von Curve bei »Edge To Life« und »Bloodline« mitwirkte und Moby auf »Curse« rappte. Aber auch ein erster Blues-Sänger ist auf »Electro Blues For Bukka White« zu hören, eben Bukka White (1990 posthum aufgenommen in die Blues Hall Of Fame). Später nimmt er diesen Konzept-Faden immer wieder auf. »Faith Healer« ist darüber hinaus die erste Single-Auskopplung von Recoil. Auch bei dem 1997 erschienenen vierten Recoil-Album »Unsound Methods« kooperierte Wilder mit anderen Musikern, darunter erneut Douglas McCarthy sowie Wilders Ehefrau Hepzibah Sessa (Miranda Sex Garden). Wilder produzierte »Unsound Methods«, das erste Album nach seinem Ausstieg bei Depeche Mode, in seinem privaten Studio The Thin Line. Dort entstand dann auch der Nachfolger »Liquid«, der 2000 erschien und auf dem Wilder sein Gastsänger-Konzept konsequent fortsetzte. Diesmal unterstützten ihn unter anderem Diamanda Galás, Nicole Blackman, das Golden Gate Jubilee Quartet und einige mehr. Alan Wilder sucht sich für seine sehr ungewöhnlichen Kompositionen immer passende, meist nicht so bekannte und unverbrauchte, Vokallisten aus. Die veredelten seine Kompositionen noch weiter.
subHuman – Nach »Liquid« wurde es längere Zeit ruhig um Recoil, bis Alan Wilder im September 2006 ein neues Album ankündigte. Bei »subHuman«, das dann im Juli 2007 erschien, wirkten diesmal der Blues-Musiker Joe Richardson (gefunden per Google-Suche) und die Sängerin Carla Trevaskis mit. Das Album erscheint auch als limitierte Version mit einer DVD. Auf der DVD findet man die sieben Kompositionen in PCM Stereo, 5.1 DTS Dolby Surround Version und PCM Stereo Ambient Version. Darüber hinaus findet man die Promo-Videos »Faith Healer«, »Drifting«, »Stalker«, »Strange Hours«, »Jezebel«. Weiterhin »Shunt« und »Electro Blues For Bukka White (2000er Mix)«, insgesamt satte 40 Minuten Video-Material. Und es bleibt weiter etwas ungemütlich bei Recoil alias Alan Wilder, idyllisches und gemütliches Kuscheln sind nicht sein Markenzeichen. Er beschäftigt sich hier in sieben epischen Teilstücken und einer circa 61-minütigen Geisterbahnfahrt erneut mit zahlreichen menschlichen Abgründen, wie etwa Mord, Totschlag, Drogen oder Haft und wendet sich sogar, nicht das erste Mal, auch wieder biblischen Themen zu. Das gesamte Album wirkt wie aus einem Guss. Hervorzuheben ist der beschwörende Gesang von Joe Richardson, der auf 5 der insgesamt 7 Stücke mit eindringlicher Stimme einen wichtigen vokalen Beitrag leistet. Er verleiht dem Ganzen, beispielsweise bei »Prey« und »99 To Life«, einen Grad an Schmerz, innerer Qual, Voodoo, eben echte Südstaaten-Atmosphäre, die in dieser Konstellation und Dichte schon beängstigend wirkt. Carla Trevaskis ist das starke weibliche Gegenstück, auf »Allelujah« und dem eindringlichen »Intruders«, hier im Duett mit Joe Richardson. Sie verstärkt mit ebenso eindringlicher, nahezu lasziver Gesangsakrobatik, diese magisch düstere Stimmung. Diesmal nur zwei Gäste beim Gesang, aber in dieser Kombination sehr gut ausgewählt. Wie üblich werden in die schwebenden Klangmalereien von Wilder, Tupfer von Samples, Wort- und Textfragmente gesetzt, man hört Schnipsel von Amazing Grace, Canned Heat und Tangerine Dream. Diese Art von Klang Visionen habe ich ja schon bei Archive, Dead Can Dance und Pili Pili beschrieben.
Selected – Am 16. April 2010 erschien das Best-Of-Album »Selected«, für das Alan Wilder 14 Songs aus den bisherigen Recoil Material ausgewählt und komplett klanglich überarbeitet hatte. Auch dieses Album gibt es als limitierte Doppel-CD mit 12 zusätzlichen Remixen. Im Anschluss ging Wilder erstmals mit seinem Projekt auf Tour. »Selected Events 2010« führte Alan Wilder von März bis Mai 2010 durch Europa und Nordamerika. Diese Shows waren überhaupt die ersten Live-Auftritte, die Wilder mit dem Projekt Recoil absolvierte. Die Tournee ging mit Terminen in Nordamerika und Südamerika weiter und endete zwischen Oktober und Dezember 2010 in Europa. Von den insgesamt 52 Selected Events wurde das Konzert in Budapest vom 04. Dezember 2010 mitgeschnitten und im Juli 2012 unter dem Titel »A Strange Hour In Budapest« ausschließlich auf Blu-Ray veröffentlicht.
VCMG – Erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang auch noch das Minimal-Techno-Duo-Projekt VCMG (Voltage Control Modulation Generator) von den beiden Elektro-Helden und Composition Of Sound Kollegen (Vorläufer von Depeche Mode), Vince Clarke (Erasure, Yazoo, The Assembly) und Martin Lee Gore. Das einzige Album »Ssss« (2012) entstand für Mute einfach deshalb, weil Vince seine Leidenschaft für technoide Klangwelten wiederentdeckt hatte und Martin per EMail fragte, ob er nicht Lust hätte, an ein paar Elektro-Titeln mitzuarbeiten. Entstanden ist ein modernes Minimal-Techno-Album gewürzt mit den Zutaten der frühen 80er.
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