Wer hat es erfunden?
Das stampfende, rhythmisch aufs Minimum reduzierte und mit unzähligen Solos garnierte 12-Takt-Schema in Endlosschlaufe das normalerweise weit jenseits der üblichen 3-Minuten-Grenze zur Landung aufsetzt?
Kenner der Szene tippen bestimmt auf jemanden aus der britischen Bluesschule, John Mayall, Chicken Shack, Savoy Brown, Fleetwood Mac, Ten Years After oder sonst jemandem aus dem vom britischen Produzenten Mike Vernon geprägten Lehrgang der in der zweiten Hälfte der Sixties in britischen Tonstudios im Zuge des „Blues Booms“ durchgeführt wurde. Oder dann wären da auch noch die Rolling Stones die 1966 bei ihrer Improvisation „Going Home“ auf dem Album Aftermath immerhin die epische Länge von elfeinhalb Minuten erreichten. Okay, der Heimweg der Steine war weniger 12-Takte-Speed-R&B sondern im gemütlichen Blues-Tempo angesiedelt.
Ich vermute die Idee der überlangen Improvisation stammte ursprünglich aus dem Jazz, die Jazzer waren es sich gewohnt, dass man sich auf eine Basis verständigte um dann darüber zu improvisieren. Beim 1926 in North Carolina geborenen Saxofonisten und Bandleader Lou Donaldson findet sich die perfekte Blaupause für dieses eingangs beschriebene pumpende 12-Takt-R&B-Schema das eigentlich nichts weiter als eine rudimentäre, schnell gespielte Form des Blues ist: „Funky Mama“ ist 9 Minuten lang und wurde im Mai 1962 im Van Gelder Studio in Eaglewood Cliffs, New Jersey aufgenommen. Die eingespielte Session-Truppe lenkte die Energie der „Funky Mama“ zu 100% in die Füsse, die Vorlage aus den Tasten des involvierten Organisten John Patton ist hervorragend sie beinhaltet sämtliche Elemente die in die oftmals überlangen Jams der nachkommenden Blues-Generation integriert wurden.
„Funky Mama“ wird in erster Linie vom Groove von Ben Dixons Drums und der dominanten Orgel angetrieben, wobei John Patton auch für den pumpenden Bass verantwortlich zeichnete, die Bässe spielte er auf den Fusspedalen seines Instrumentes. Diese Vorgehensweise war nicht unüblich für damalige Jazz-Keyboarder, das war ein Supplement das von Hammond-Organisten (Patton spielte eine B3, diese Modelle wurden von 1955-1974 gebaut, als einer ihrer bekanntesten Anwender gilt Jimmy Smith) beinahe erwartet wurde, ausserdem liess sich dadurch der Gehaltscheck für einen zusätzlichen Bassisten einsparen. Okay, zugegeben, die mit Percussion-Section bestückte B3-Konzertorgel aus dem Hause Hammond war vermutlich auch für Rückenschäden von tausenden von Helfern (Roadies) verantwortlich, aus deren Sicht eroberten ab Mitte Seventies zum Glück dann leichtere Keyboards den Markt. Die Gitarre hatte sich Grant Green umgeschnallt, er fühlte sich sowohl im Jazz wie auch im Blues zuhause, ein Vorzeigeartist der genauso zum Inventar des Studios von Rudy Van Gelder gehörte wie seine Zeitgenossen Wes Montgomery und George Benson. Trompeter Tommy Turrentine ergänzte die Mannschaft die vermutlich von Lou Donaldson in der Studiomitte angeleitet wurde, ganz in der Art der klassischen Bandleader die dirigierten und mittels Handzeichen die einzelnen Musiker zu ihren Soli aufforderten.
Die weiteren Tracks aus der Session die 1963 auf der LP Natural Soul veröffentlicht wurden sind dann weniger Dampfhammer-R&B und mehr Jazz und Soul, eine sogenannte Soul-Jazz-Kombination (der swingende, mitreissende 11minütige „Sow Belly Blues“ etwa), aber nicht minder spannend, The Natural Soul kann mit seiner Bandbreite, Überzeugungskraft und Wucht seiner Klänge durchaus musikideologische Mauern niederreissen. Produziert wurden die Aufnahmen von Albert Lion, einem vom Jazz-Virus befallenen Einwanderer der zusammen mit dem ebenfalls aus Deutschland emigrierten Frank Wolff das gemeinsame Label Blue Note gegründet hatte.
Die Aufnahmen aus dem Studio Van Gelder sind übrigens frei von Alterserscheinungen, sie haben zwar mittlerweile 60 Jahre auf dem Buckel, sind aber dermassen klar und dynamisch als seien sie erst gerade eben auf Band festgehalten worden. Kleinere „Fehler“ wurden bei den Sessions übrigens nicht korrigiert wenn ein Instrument mal nicht ganz – sagen wir mal – „rein“ war, dann wurde der Schnitzer halt so belassen und die Session nicht wiederholt, Momentaufnahmen eben, einmalige Unikate.
The Natural Soul ist eine fantastische Klangreise in die Vergangenheit ins Jahr 1962 in welchem gemäss Szenekennern der Jazz „returned to the people“, sprich der Jazz vom abgehobenen Kunstross stieg und auf einen einfachen Esel umsattelte. Wenn ich mir Natural Soul anhöre, dann kann ich dem nur beipflichten, hier fanden konträre musikalische Ansichten wieder zueinander und präsentierten sich so als hätte es niemals eine Trennung der Genres gegeben.
LOVE-THAT-JAZZ-THING!
mellow
Lou Donaldson – The Natural Soul
(1963, LP, Blue Note / 2003, CD, Blue Note)
01. Funky Mama
02. Love Walked In
03. Spaceman Twist
04. Sow Belly Blues
05. That’s All
06. Nice‘N‘Greasy
Bonustrack CD:
07. People Will Say We’re In Love
(aus der gleichen Recording-Session)
Lou Donaldson – Alto Sax
Tommy Turrentine – Trumpet
Grant Green – Guitar
John Patton – Hammond B3
Ben Dixon – Drums
Stimmt schon, Jazz ging bei mir früher nur im Zusammenhang mit Rock, z.B. die Crusaders, die liebe ich schon ewig. Ich bin aber offenbar entwicklungsfähig, mit zunehmendem Alter öffnet sich der Horizont. Die Vorlieben haben sich mittlerweile geändert, es war also nur eine Frage der Zeit bis ich den Sprung von Acid-Jazz, Loungecore, Mod, Soul und Funk zum Jazz mache. Ich staune übrigens je länger je mehr wie sich die Genres überschneiden, draussen an den Rändern existieren grandiose grenzüberschreitende Tondokumente. Bei Lou Donaldson habe ich mir gezielt die LP The Natural Soul herausgepickt aus dem riesigen Oeuvre, gerade auch weil sie ein verbindender Steg zwischen konträren musikalischen Welten ist.
Und natürlich hast du recht, dass das Faible Kohle kostet, aber gerade die unglaubliche Tonqualität von Blue Note beispielsweise ist es wert sich da tiefer reinzuknien.
mellow
Blue Note waren ja bekannt dafür, dass sie auf Aufnahmequalität Wert legten und mit RvG hatten sie ja auch den entsprechenden Mann der das ausführen konnte. Die beiden Eigner von BN waren schon damals mit einem gesunden Sendungsbewusstsein ausgestattet von der die Historie des Labels heute noch zehrt. Viele andere Labels zu der Zeit machten eher einen auf Zeit ist Geld und liessen auch mal den einen oder anderen nicht so gelungenen Take durch. Lou Donaldson ist in der Jazz- und Blue Note-Geschichte schon ein Eckpfeiler und es lohnt sich, wenn man sich mit dem Mann und dem Label etwas näher befasst. Aber Vorsicht, euer Konto wird es euch nicht danken.
Aber ich bin etwas verwundert, dass der Beitrag von mellow kommt, meine ich doch, mich zu erinnern, dass zu Zeiten des Rockzirkus Forums Jazz bei dir nur etwas war, das du mit der Feuerzange angefasst hast (oder trübt sich da meine Erinnerung etwas?). Hat hier in den Jahren ein Umdenken stattgefunden? Jedenfalls Chapeau zur Wahl des Interpreten und dem kompetenten Text.
Cheers
Roland