As Slow(ly) and Soft(ly) as Possible – Das langsamste Konzert der Welt
Klingende Flaschenpost im Strom der Zeit – Kürzlich schrieb mir Greenpeace: „Jetzt erst recht: Aufgeben ist keine Option!“, ein Freund: „Ich feiere meinen Geburtstag groß“, Musiker Richard West aus England: „Wir haben ein Lied für Hoffnung aufgenommen.“ Ja, trotz der im Moment sehr unruhigen Zeiten, ist die Zeitspanne von 12 Monate oder einigen Jahren im Angesicht der Lebensdauer unseres Planeten nur ein Wippern Schlag. Ebenso ist der Zeitraum von fast 650 Jahre für die meisten Menschen eine unglaubliche, schwer fassbare lange Zeit. Vor allem aber auch für ein einzelnes Mega-Musikstück. Knapp 20 Jahre sind mittlerweile erst vergangen, seitdem das John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt im Jahr 2000 in Halberstadt gestartet wurde. Aber das eigentliche Konzert fing erst mal mit einer unfassbare ruhigen fast lautlosen 17-monatigen Pause am 05. September 2001 (Cages 89. Geburtstag) in der Sankt-Burchardi-Kirche, Am Kloster 1, in 38820 Halberstadt nähe Nord-Harz an. Nur der Wind aus dem Blasebalg war erst mal zu hören. Den ersten echten Klang (Impuls 02: gis‘, h‘, gis“) gab es aber dann endlich am 05. Februar 2003. Letzter Klangwechsel (Impuls 14: dis‘, ais‘, e“) erfolgte dann im Beisein des Berliner Theologen, Komponist, Professor für experimentelle Musik Dieter Schnebel († Mai 2018) am 05. Oktober 2013. Warum schreibe ich die genaue Adresse, weil jeder Liebhaber von Musik der in der Nähe lebt, mal seine Zeit dort verbringt oder vielleicht dort mal vorbeikommt, diese weltweit einmalig
e Klang-Installation gesehen haben muss. Es ist vollzogen, Impuls 15 erklingt nun: der aktuelle neue Klangwechsel fand am 05. September 2020 statt und seit 15:09 Uhr erfüllt der neue Klang den Raum der geschichtsträchtigen Sankt-Burchardi-Kirche (gebaut circa 1050, Ende des zweiten Weltkriegs im Bombardement durch die Alliierten zerstört, nach wie vor ohne Turm). Wie immer in einer feierlichen Zeremonie mit eindrucksvoller Zahl interessierter Besucher, wurde unter der Leitung vom Kuratoriumsvorsitzender der John-Cage-Orgel-Stiftung Halberstadt Rainer O. Neugebauer und der Assistenz von Kay Lautenbach die diesmalige Neubestückung der Orgel-Pfeifen vollzogen. Die beiden „Organisten“ Johanna Vargas und Julian Lembke führten diesen Vorgang fachgerecht durch und nun sind die Töne gis und e‘ (Impuls 15) zu hören. Der neue Klang kann nun auf der Web-Start-Seite ORGAN²_ASLSP abgerufen und auch dauerhaft angehört werden. Weiterhin hier schon mal der Hinweis auf die sehr informative Fotostrecke Ronald Göttel zur Zeremonie.
Ich kannte Halberstadt Nähe des nordöstlichen Fuß des Harz-Gebirges nur vom Namen. Als ich mal in Quedlinburg war, nutzte ich die Gelegenheit eine der spektakulärsten Klang-Installationen des Planeten in Augen/Ohrenschein zu nehmen. Eine Realisation des Orgelwerkes ORGAN²/ASLSP (As Slow(ly) and Soft(ly) as Possible), das langsamste Konzert der Welt, wird dort seit dem 05. September 2001 in Halberstadt in der Sankt-Burchardi-Kirche aufgeführt. Diese Aufführung soll bis zum 04. September 2640 dauern, also insgesamt 639 Jahre. Der erste Teil läuft bis Impuls 65, der dann am 05. Juli 2071 eingestellt wird. Minimaler geht fast nicht mehr !! Zurück zum Anfang des Textes. Wir sollten demütig und geduldig bleiben, es kommen auch wieder bessere Lebensphasen, vermutlich in kürzester Zeit. Wenn man dagegen das Zeitfenster von 639 Jahre sieht, ist das doch echt Minimal.
Leitfaden Minimal-Musik – Als frühe Künstler der Minimal-Musik werden oft der Franzose Erik Satie, sowie die Amis John Cage und Morton Feldman genannt. Darüber hinaus finden sich einige Merkmale dieser Ausrichtung bereits in Film-Musik von Bernard Herrmann und/oder selbst in Teilen der Carmina Burana von Carl Orff. Die moderne Minimal-Musik sprich Repetitive-Musik, die sich seit Beginn der 60iger vor allem in New York entwickelte, kaum wahrgenommen von der Masse, vielleicht mal als Soundtrack eines Experimental-Film verwendet, richtete sich eher an Publikum mit Vorlieben für Kultur in allen Ausrichtung hatte. Gerade in ihren Anfängen wirkte sie Radikal. Junge US-Künstler wie Pop-Minimalist Terry Riley suchten neue Wege und Ansätze, dazu mussten andere Verbindung zu Traditionen, Harmonie und Melodik neu überdacht und bewertet werden. Damit war auch der Blick auf neue Horizonte freier, auf urbane Musik anderer Kontinente, wie etwa indische Klassik oder Musik aus Westafrika, Bali und Tibet/Nepal. Einer dieser suchenden Komponisten, La Monte Young (1962: The Four Dreams of China), wurde Schüler des indischen Sängers Pandit Pran Nath (1918-1996). Young führte diesem Inder wenig später zwei weitere US-Adepten zu, Terry Jennings und eben Terry Riley. Er hatte bereits bei einem Major-Label das gefeierte Werk A Rainbow In Curved Air veröffentlicht, ließ dennoch alles hinter sich, folgte dem Ruf des Meister Young nach Indien. Das charakteristischste Merkmal das die Arbeitsweise aller Minimalisten anfänglich prägte, war die Wiederholung einfacher Grundmuster, sprich Patterns. Mit Steve Reich und Philip Glass sowie nachfolgende Vertreter dieser durchaus uneinheitlichen Bewegung wurde es bunter, obsessiver und experimenteller. Besonders auf die hypnotische Wiederholung von Klängen und Mustern wurde die populäre Musik aufmerksam. Die erste berühmte Rock-Band, die nachweislich von Techniken der Minimal-Musik Gebrauch machte, waren die New Yorker The Velvet Underground. Klangarchitekt ihrer revolutionären ersten beiden Alben war John Cale, der hatte noch bis Mitte der 60iger elektrische Bratsche auch bei La Monte Youngs berüchtigten avantgardistischen Improvisationen gespielt. Die Velvets waren stark von radikaler Ästhetik der frühen Young-Werke und seiner maschinenartigen Rhythmik geprägt. Hier liegen auch einige Wurzeln für die moderne Avantgarde und des Industrial-Rock, aber auch von den Repetitionsexzessen eines Steve Reich. Aber wo ist nun die Verbindung zu klassischen Rock. Auch die Musiker in Europa, besonders des Krautrock in Deutschland, erkannten rasch welche Sprengkraft der Minimalismus für die mehr und mehr elektrifizierte Musik besaß. Die deutschen Bands wie Can, Cluster oder Faust adaptierten die monotonen Rhythmen der Repetitiven Musik. Es waren aber vor allem die Pioniere der elektronischen Ausrichtung des Krautrock, die sich den klanglichen Ausdrucksmöglichkeiten teilweise Roboterhaft hingaben. Nicht zuletzt deshalb, weil auch ihre US-Kollegen schon früh auf diese vielfältigen elektronischen Klangerzeuger setzten. So nehmen etwa der Synthesizer und andere Rhythmus-Maschinen eine zentrale Rolle im Werk von Reich, Glass und Riley ein. In Arbeiten von Tangerine Dream, Popol Vuh, Klaus Schulze oder Neu! sind die Einflüsse klar auszumachen. Von Neu!, Kraftwerk und Manuel Göttsching (Ashra) gingen die minimalistischen Impulse in den 80er-Jahren schließlich geradewegs auf die Bilderstürmer des Techno über, der ohne die Minimal-Musik schlicht nicht denkbar wäre.
John Milton Cage Junior – Zusammen mit einer Hand voll weiterer Komponisten gilt er als Minimal-Musik-Pionier und als einer der Wegbereiter einer Stilrichtung, deren unwiderstehlicher Klang-Sog tief auf die moderne Rock- und Pop-Musik eingewirkt hat. Er ist bis zu seinem Tod im August 1992 ein genialer Musik-Provokateur geblieben, wie die FAZ schrieb: „Ein Vordenker einer musikalischen Avantgarde und eine Art Joseph Beuys der Töne“. Cage komponierte, besser kreierte, das Werk ASLSP 1985 mit Hilfe eines Zufallsprogramm für Klavier, 1987 widmete er die zweite Version dem Essener Komponist, Organist und Pionier der Neuen Musik Gerd Zacher († Juni 2014). Cage hatte damals nur eine wichtige Anweisung: As Slow As Possible, es muss so langsam wie möglich gespielt werden. Seine Kunst & Musik animiert eher zum Nachdenken und nicht zum fröhlichen Mitsummen. Sein bekannter Hit ist 4,33‘, in denen viereinhalb Minuten lang vermeintlich nichts geschieht. Das berühmte Stück besteht aus drei Sätzen, zu 33 Sekunden, 2 Minuten 40 und 1 Minute 20, wenn man die Sekunden zusammenzählt, sind es dann 273. Das ist in der Physik der absolute Nullpunkt. Minus 273 Grad, da hört jede atomare Bewegung auf. Dieser Zusammenhang ist Zufall und laut John Cage nicht wissentlich geplant. Wirklich nicht ?? Diesem Querdenker sollte man echt alles zutrauen, denn auf vielen Fotos lächelt der Komponist spitzbübisch. 4,33‘ ist eine musikalische Schweige-Minute, meist vorgetragen von einem Pianisten, der dann fast reglos an einem Flügel sitzt ohne darauf zu spielen und nur die drei Sätze durch Schließen und Öffnen des Klavierdeckels anzeigt. Eine weitere seiner ungewöhnlichen Projekte, die Klang-Licht-Installation namens Essay (Writings Through The Essay: On The Duty Of Civil Disobedience, 1985/91), ist seit 1998 permanent in der Sammlung der Kunsthalle Bremen ausgestellt. Diese Arbeit zeigte John Cage 1987 im Rahmen der documenta 8 in der Karlskirche in Kassel. +++ Klänge sind feinste Schwingungen der Luft, die im Dauerbetrieb Sekunde für Sekunde genährt werden wollen. Beim Projekt ORGAN²/ASLSP etwa 20 Milliarden Sekunden lang (die werden auf der Webseite präzise runter gezählt), von denen eine jede einen langen und kräftigen Atem braucht. Die Welt ist Klang, das Lebensthema vom Musik-Kreativen Joachim-Ernst Berendt !! Aber das ist ein Thema für einen anderen Beitrag.
Das tönerne Zeitschiff – Wer hier innehält, an einem leisen Tag, am besten abends, wenn die Ohren sich an die Stille, das Gemüt an die freie Weite gewöhnt haben, der kann ungewöhnliche Hörerlebnisse, neue Zeiterfahrung machen. Ein unscheinbares Summen, bald auch ein leichtes Dröhnen oder ein unmerkliches Vibrieren oder Brummen, mehr ist erst einmal nicht zu hören. Sobald man das Areal der ehemaligen Klosteranlage durch den mittelalterlichen Torbogen dann betreten hat, kann man wenn es im Umfeld leise ist, diese aktuellen Klänge 24 Stunden am Tag diffus hören und spüren. Alles wird immer etwas lauter und deutlicher, je näher man zur Mitte des weiten, freien Platzes kommt, sich dem Zentrum mit der imposanten Kirche (war Gebetssaal, Lazarett, Lagerschuppen, Schweinestall, Brennerei, Ruine) nähert und damit deren großen hölzernen Eingangstor. Der Klang wird irgendwann gefühlt wieder immer leiser, weil das menschliche Gehör dann den Ton als Teil des aktuellen akustischen Hintergrundes wahrnimmt, damit als Teil der normalen Geräuschkulisse einordnet wird. Nun tritt ein, was aber nur im Beisein eines geschulten Mitarbeiters der Stiftung geht. Der hat den Sesam-Öffne-Dich, gibt auch Erklärungen und beantwortet Fragen. Der Boden der Kirche besteht hauptsächlich aus feinem hellen Schotter, die Decke aus naturbelassenen Massivholz. Minimalistisch einfach, pflegeleicht und spartanisch, für das ganze Projekt alles in der Summe sehr passend. Das Instrument steht erhöht, etwas versteckt und verloren, zentral mitten im leer geräumten südlichen Teil des Querhauses des fast 1.000 Jahre alten romanischen Kirchenschiff. Im nördlichen Teil befinden sich die Blasebalg-Anlage. Der Sakralbau hat bisher wie beispielsweise Höhlen-Malereien & Gemälde alter Meister, antike massive Weltwunder, robuste Kunstwerke, den vielen An Brandungen der an ihnen nagenden Zeit standgehalten, aber beileibe nicht schadlos. Die Orgel hat einen stabilen Rahmen aus mittelbraunen Massiv-Holz-Streben, sieht auf den ersten Blick und von weitem wie eine selbstgebaute Holzkonstruktion auf einer Werkbank oder nostalgischer Webstuhl aus dem Mittelalter aus. Sie ist maßstabgetreu der antiken mittelalterlichen Faber-Orgel nachgebaut, jedoch reduziert auf das Wesentliche in Linienführung und Proportionen. Nur die größeren Orgel-Pfeifen aus glänzenden Metall, die in der hölzernen Windlade stecken, irritieren erst einmal noch etwas. Die Tasten werden von Gegengewichten heruntergedrückt, bei funktionierendem automatischen Doppel-Gebläse kann die obskure Maschinerie dadurch ja Töne in unbegrenzter Länge von sich geben. Modern Notstrom aus Generator und Akkus gibt es sogar auch noch, man will ja nicht Atemlos, nein besser Tonlos werden. Wenn die gesamte Technik versagen sollte, dann kann die Orgel sogar manuell mit sechs Blasebälgen per Muskelkraft weiterbetrieben werden. Bei technischen Fragen und Arbeiten steht der Erbauer, die renommierte Firma Romanus Seifert & Sohn aus Kevelaer, dem John-Cage-Projekt stets hilfreich zur Seite. In den Anweisungen von John Cage steht nirgends, dass ein realer Mensch das Stück spielen muss, hat der Minimal-Meister sicher auch nicht erwartet. Typisch für seine Denkstruktur lässt Cage die weitere Entwicklung des Projekts in den Händen der Erbauer, Betreiber, Konsumenten, Gäste. Bei einem Rundgang kreuz und quer durch das sonst nicht weiter restaurierte Kirchenschiff verändert sich der frequenzstabile Dauerton in der Klangfarbe, mal sind mehr Bässe zu hören, dann ist der Hall stärker und die höheren Frequenzen sind dominanter. Es ist nicht wie beim Lauschen eines Liedes in Stereo oder Quadrophonie. Es fühlt sich an, als bewegt man sich unter Wasser oder im Weltraum und wird mit einer Schallkanone bestrahlt, von allen Seiten gleichzeitig, da die Klang-Kanonade ja vom filigranen Boden, glatten Decken und rauen Mauerwerk unterschiedlich aber doch stark reflektiert wird. Man gewöhnt sich irgendwann an diesen Dauer-Ton, nimmt ihn nur noch dann deutlicher wahr, wenn man bewusst darauf achtet. Es ist etwas unheimlich, aber auch ergreifend. Man schreitet bedächtig in diesem tönernen Klangbrei herum, fühlt sich eingebettet in diese Wall Of Tonal Sound und sich vorsichtig mitgenommen in ein Stück eingefrorener Zeitblase, das einem schlimmstenfalls wie in einer Zeit-Maschine erst wieder beim nächsten Klangwechsel oder noch minimaler erst im Jahr 2640 erneut vollständig freigibt.
Einige wichtige Fragen & Antworten – 1. Warum Halberstadt?? Dort wurde im Mittelalter die damals größte und modernste Blockwerk-Orgel vom Benediktiner-Mönch Nikolaus Faber gebaut, die für Fachkundige wegen der ersten Tastatur mit zwölf Halbtonstufen pro Oktave ein Meilenstein der Orgelgeschichte darstellt. 2. Warum dieses Gebäude?? Es war eine Bauruine abseits gelegen weit am Rand der im Krieg fast völlig zerstörten Altstadt. Deshalb für das Projekt optimal geeignet. 3. Wer ist Eigentümer?? Die eigens nur für dieses minimale Konzert gegründete John-Cage-Orgel-Stiftung hat das damals sehr marode Gebäude als zukünftige Spielstätte von der Stadt Halberstadt geschenkt bekommen. 4. Gab es Auflagen?? Einzige Bedingung war, es dürfen durch das Konzert zukünftig keine weiteren Kosten für die Allgemeinheit entstehen. 5. Wie wird alles Finanziert?? Für die gesamte Renovierung und den Erhalt der Kirche und für den Bau und Betrieb der Orgel stammen die Beträge hauptsächlich von Käufern der Klangjahre sowie Spenden. 6. Warum diese Laufzeit?? Man hat sich auf 639 Jahre geeinigt, weil 1361, also 639 Jahre vor dem Startschuss für Organ²/ASLSP im Jahr 2000, die berühmte Blockwerk-Faber-Orgel im Halberstädter Dom eingebaut wurde. 7. Warum ist diese Orgel so kompakt?? Für eine komplette vollständige Orgel fehlen die Mittel, deshalb diese kompakte Interimslösung. 8. Ist das Konzert der Gema gemeldet?? Ja natürlich, abgerechnet wird aber eigentlich am Ende der Vorstellung und nach der etwaigen Zugabe. Ein echter Sonderfall der nun einige Juristen für eine Lösung beschäftigt.
Minimale Fehler-Korrektur – Man hat wohl bei der Umrechnung der Partitur der ursprünglichen Komposition von 1985 auf die über sechs Jahrhunderte ein paar kleine, minimale Fehler gemacht. Das Stück Musik lief anfangs viel zu schnell, war seiner Zeit schon mal fast elf Monate voraus. Es wurde dann vom 05. Oktober 2013 (Impuls 14) an stark abgebremst, um jetzt am 05. September 2020 (Impuls 15) wieder in das richtige synchronisierte Maß zu gelangen. Jetzt läuft die obskure Maschinerie wieder zeitgenau und minimalistisch im komponierten Takt.
Klang-Tafeln als Treibstoff – Die Innenstadt der am nördlichen Harzvorland liegenden Kreisstadt wurde am 08. April 1945 durch einen US-Luftangriff zu weit mehr als 80 Prozent zerstört. Danach wurde sie über Jahrzehnte wieder oder neu aufgebaut. Die Sankt-Burchardi-Kirche wurde erst wieder für dieses Projekt zu einem begehbaren sicheren Gebäude hergerichtet. Nun können sogar in dieser geschichtsträchtigen ältesten Kirche Halberstadts an einem fast endlos erscheinenden Edelstahlband für jedes der 639 Aufführungsjahre des Projekts Gedenktafeln angebracht werden. Ein besseres, darüber hinaus auch historisch wertvolles, Gebäude hätte man für diesen klingenden Ort wahrscheinlich nicht finden können. Die Zeit-Tafeln kann man auf vielen Bildern der Fotostrecken von Ronald Göttel sehr gut sehen. Jeder Spender und jede Spendergruppe, die mehr als 1.200 Euro spenden, kann sich eine Tafel zuteilen lassen und dafür einen eigenen individuellen Text oder Grafik vorgeben. Mit dem Kauf eines jeden Klangjahrs wird das minimalistische Zeitreise-Projekt in der Sankt-Burchardi-Kirche weiter unterstützt. Auf der Webseite des Projektes kann man einsehen, welche freien Jahre noch zur Verfügung stehen. Unsere Tafel ist schon ausgesucht und reserviert. Für eine Mehr-Generationen-Aufgabe nun nur ein Wimpernschlag in der Zeit, denn der nächste Klangwechsel findet sehr zeitnah bereits am 05. Februar 2022 statt, aber vorsichtshalber jetzt schon mal vormerken. Wer sich was echtes, dauerhaftes und besonderes gönnen will, sollte mit dieser Zeit-Maschine auf die lange Reise gehen und dort in Halberstadt seine individuelle Klang-Tafel erwerben und anbringen, damit den notwendigen wichtigen Brennstoff für die Zeit-Reise über 25 Generationen liefern. Nicht lange überlegen, ran an die Zeit-Tafeln.
Bleibt Gesund. Zeitlose Grüße, Der SchoTTe
Meine lieben Musik-Freunde, es gibt seit vielen Jahren endlose Diskussionen über 4,33‘ (aber nicht nur darüber, auch über ORGAN²) und genau so viel Interpretationen. Das hat John Cage beabsichtigt. Und man meint dabei sehr weit weg von der Rock-Musik zu sein, ist man aber nicht, wenn man mal die Geschichte um den britischen Musiker & Komponist Mike Batt recherchiert. Es gibt Künstler die nicht nur Musik komponiert haben, sondern in vielen Bereichen übergreifend aktiv waren und sind. Lest mal nach bei dem Beitrag Guru Guru oder Manfreds Geschichte in fünf Akten, bei Akt_2: Finkenbach-Festival 2017. Großartige Diskussion, John reist mit seinem deutschen tönernen Zeitschiff und freut sich !! Klingende Grüsse, Der SchoTTe
@Roland; ich hab’s auf JOHN CAGE MEETS SUN RA mal nachgestoppt – und tatsächlich führt er hier zwei Mal 4’33“ auf – allerdings nützt er die Pause zwischen den zwei Sätzen zu dem bereits oben erwähnten ‚Gemurmel‘. Ist ja toll. Wird auf der Platte (obwohl sie einen SEHR üppigen Cover Text hat) gar nicht erwähnt.
Gruß – Ronald;-)
P.S.: …inzwischen sind wir aber wirklich sehr weit weg von Rock….
Das mit dem Auf- und Zuklappen des Pianos als ‚Begrenzung‘ der Sätze ist mir neu – allerdings hatte ich mir schon gestern Gedanken gemacht wie man genau die 4’33“ einhält – und ob eine Version von 5 Minuten noch als eine Aufführung des Werks gelten kann.
Tatsächlich ist das auch eine deutliche Parallele zu der Aufführung in Halberstadt – das Ganze gleicht doch eher einem Happening oder einer Aktionskunst als Musik
Es gibt von CAGE eine Platte von 1986 zusammen mit SUN RA (den ich sehr schätze und immer wieder gerne höre) namens JOHN CAGE MEETS SUN RAT, auf der er wohl auf beiden Seiten jeweils eine Variation von 4’33“ aufführt – allerdings werden die Sätze von dem merkwürdigen Gemurmel CAGEs unterbrochen. Kann man sich anhören – muss man aber nicht. Aber wenn sich schon mal zwei solche ‚Giganten‘ treffen…:-)
Aki Takase hatte damals die 4’33“ mit einer elektronischen/elektrischen Uhr überwacht, die sie auf das Babyklavier gestellt hatte. Und nein, meiner Meinung nach muss „4.33“ die Dauer von 4’33“ haben. Gerade bei John Cage würde ich darauf bestehen, dass die Stücke so gespielt werden wie es Cage’s Intention war.
Happening oder Aktionskunst werde ich nie mit John Cage zusammenbringen können, da fällt mir bei den Neutönern eher Karlheinz Stockhausen dazu ein.
Cheers
Roland
Das ist jetzt mal eine Ueberraschung, John Cage und viele weitere Neutöner in einem Beitrag im Rockzirkus-Blog. Das ist tatsächlich ein Teil meines musikalischen Universums und für einen Blogbeitrag ziemlich ausführlich und informativ gehalten. Vielen Dank dafür.
Das angesprochene Konzert war ja schon bei der Installation ein Thema das durch die Presse ging. Aber das kam immer so mit einem Ironieunterton rüber, was ich generell bei John Cage feststelle. Ich gehe mal davon aus, weil seine Kompositionen etwas abseits der Norm sind, bleiben sie grösstenteils unverstanden und man weicht aufs Lächerlichmachen aus. Das 600+ Jahre Konzert kommt mir ein wenig vor wie die Kirchenbauer vor fast einem Jahrtausend, die ein Münster planten, wohl wissend, dass Generationen am Bau beteiligt sein werden und die meisten davon das Endprodukt nie zu Gesicht bekommen würden. Eine Leistung mit Visionen und im wahrsten Sinne des Wortes Generationen umspannend, auch wenn man den nachfolgenden Generationen die Weiterführung aufgebürdet hat ohne diese zu fragen, ob sie damit auch einverstanden sind. Die Frage bei dem Konzert ist hier auch, was denken die „Erben“ des Projekts in vielleicht 200 Jahren? Läuft das noch immer? Können sich immer noch Leute finden die das durchziehen? Die das am Leben erhalten? Ich wünschte mir, dass das so wäre, allerdings ist das nur vom Prinzip her das selbe. Eine riesige Bauruine mitten in der Stadt ist etwas anderes als ein Konzert, dass man ohne Folgen irgendwann mal abschalten kann. Ich finde das Projekt grandios.
Zum Thema „4.33“, die wohl bekannteste, und wohl auch missverstandenste Komposition von John Cage (in der angesprochenen Fassung überhaupt nicht ruhig – aber ich möchte hier keine Dissertation dazu schreiben), habe ich ungefähr in den 90ern mal als Intro eines Konzerts (ich glaube es war Aki Takase) erleben dürfen. Das war ziemlich eindrucksvoll und wohl genau das, was der Komponist erreichen wollte. Gespielt wurde das Stück übrigens auf einem Babyklavier mit Aki Takase auf dem Boden hockend. Mir war bis jetzt nicht bekannt, dass das schliessen und öffnen des Klavierdeckels die Sätze anzeigt. Keine Ahnung was ich damals davon hielt, sie hatte es auch praktiziert. Wieder was dazu gelernt.
Es gibt im übrigen nicht nur diese eine Fassung von „4.33“, ich habe noch eine andere auf einem Tonträger (nennt sich „4.33 b oder 2 oder so was) und besteht aus nicht variiertem Rauschen. Meines Wissens nach (angelesen) hat John Cage sogar noch weitere Variationen von „4.33“ komponiert.
Ob John Cage et al. wirklich die erwähnte Populärmusik beeinflusst haben ist zumindest für mich fragwürdig. Die erwähnten Musiker sind für mich aus einer ganz anderen Richtung gekommen und haben sich wahrscheinlich unbewusst der Minimalmusik angenähert. Die Motorik ist nicht zu verwechseln mit Minimal, ich denke Popol Vuh, Tangerine Dream und alle anderen Populärmusiker die erwähnt wurden, kamen aus der elektronischen Ecke und haben bewusst mit den damaligen Möglichkeiten gespielt. Ein Michael Rother oder ein Klaus Dinger haben etwas ganz anderes auf die Beine gestellt und so haben Kraftwerk und andere. Der Minimalismus eines John Cage ging nicht von der Elektronik aus, resp. war, wenn überhaupt vorhanden, wohl eher die Ausnahme.
Jedenfalls, vielen Dank für den Beitrag. Ich glaub, ich druck mir den aus und legs in mein Archiv.
Cheers
Roland
Meine lieben Musik-Freunde, was eine Überraschung für mich (und ORGAN²) das im ROCKzirkus so viel geballte Kompetenz vorhanden ist. Ich ziehe den Hut !! Durch eure Kommentare sind viele Fragen aufgeworfen worden, beispielsweise: 1. Ist das Rock-Musik??, 2. Sind die genannten Kraut-Rocker direkt oder indirekt von Minimal-Musik beeinflusst??, 3. Wird das Projekt in 200 Jahren noch weitergeführt?? Und sehr viele mehr. Auch das habe ich mir ein wenig von diesem Beitrag erhofft. Wir bewegen uns bei diesem Thema sicher sehr tief im Fundament der Töne, Klänge, Musik, Komposition. Ich habe noch einige Themen zu Klingende Orte in Planung, lasst euch überraschen. Es werden nun viele Leute, auch vom Projekt ORGAN², diesen Beitrag lesen, umso mehr freue ich mich zusammen mit Euch über diese wunderbaren Kommentare, eine Würdigung für Arbeit seit über 20 Jahren für ein Projekt das Musik-Freunde weltweit verbindet und uns alle mitnimmt auf diesem Zeitschiff, auch durch diese nun schwierigen Zeiten. DANKE, meine Musik-Freunde. Klingende Grüsse, Der SchoTTe
Klasse Artikel – schön und spannend geschrieben.
Hätte nicht erwartet hier von JOHN CAGE zu lesen, auch wenn ich ihn weniger mit der seriellen Musik in Verbindung bringe (er arbeitete eher mit Alltagsgeräuschen (ob PINK FLOYDs ‚MONEY‘ auch von ihm inspiriert wurde?!), Improvisation und vor allem und ganz besonders dem Zufall) – mit Rockmusik hat er eigentlich nix zu tun… oder nur ganz wenig…
Das Projekt Halberstadt verfolge ich natürlich – ich glaube JOHN CAGE hätte daran sicher Freude gehabt.
Daumen hoch – bitte mehr solche Artikel.
Gruß – Ronald;-)
P.S.: Vielleicht schreibe ich noch mal mehr dazu – wenn ich mehr Zeit habe – wollte das nur schnell los werden…