Birmingham im Vereinigten Königreich gilt gemeinhin als eine der Wiegen britischer Popmusik, Spencer Davis Group und The Moody Blues kamen beispielsweise aus der zweitgrössten Stadt Englands, aber auch der Heavy Metal hat mit Black Sabbath einen gewichtigen Wurzelstock in der Midlands-Metropole stehen.
Die Stadt ist ebenfalls der Ursprungsort der auf dem Festland wenig bekannten Band Pickettywitch um die 1947 geborene Sängerin Polly Brown. Nach Abschluss der Schule bewarb sich Polly um ca. 1965/66 herum als Bassistin und Sängerin bei der lokalen Band The Second City Sound. Da sie sich aber weigerte mit Minirock auf die Bühne zu stellen, verlor sie den Job ebenso schnell wie sie ihn bekommen hatte. Die Band veröffentlichte nach dem Abschied von Polly bei Decca eine Reihe Singles (an mehreren Aufnahmen war vermutlich noch Polly beteiligt) und 1968 eine LP, mehrheitlich agierte die Truppe im instrumentalen Bereich.
Polly meldete sich irgendwann um 1967/68 herum auf das Inserat eines Managers der Musiker für ein neues Bandprojekt suchte, die Unternehmung trug den Namen The 20th Century Show Band. Nach ein paar Probemonaten in Wales und der Erkenntnis, dass wohl nichts aus den hochtrabenden Plänen werden würde, floh Polly Brown mit ein paar der involvierten Musiker nach London. Aus musikalischer Sicht war die britische Metropole damals das ultimative Kreativzentrum in dem noch immer Goldgräberstimmung herrschte, hier wurden Trends gesetzt und hier war die Chance relativ gross um im Unterhaltungsbereich auf irgendeiner Karriereleiter dem Dasein als einfacher Arbeiter zu entfliehen. Zusammen mit Gitarrist Dave Martyr, Bassist Martin Bridges, Drummer Keith Hall und Keyboarder Bob Brittain probte man im Hinterzimmer eines Pubs, vorerst noch ohne Bandnamen und Live-Auftritte, als Ergänzung zu Polly stiess dann zusätzlich Chris Warren als zweiter Sänger zur Truppe. Der Songwriter/Produzent John Macleod (Long John Baldry, Paper Dolls, The Foundations) war äusserst zufrieden mit dem Softrock den er bei einem Besuch im Probelokal zu hören bekam, er organisierte der unbekannten Combo einen Plattendeal bei seinem Stammlabel PYE.
Die Chose brauchte spätestens jetzt unbedingt einen Namen, Polly schlug Pickettywitch vor. Der Bandname war ihr schon vor einiger Zeit von ihrer Schwester zugetragen worden, die hatte Picketty Witch in der Vorbeifahrt in Somerset im Bus registriert und war davon ausgegangen, dass es sich um eine Ortschaft handelte. Ein solches Dorf hat allerdings nie existiert, vermutlich war es das Hinweisschild oder der Wegweiser eines örtlichen Pubs. Pickettywitch passte jedenfalls, der Bandname wurde ohne Widerrede akzeptiert.
Bei einem Label wie PYE waren Musiker vor allem Angestellte, normalerweise kümmerten sich die Songschreiber und Produzenten um das Material das von einem jeweiligen Act aufgenommen werden sollte, manchmal wurde derselbe Titel auch gleichzeitig mit mehreren Künstlern produziert, irgendeine Version würde dann schon den avisierten Erfolg haben. Die erste Pickettywitch-Single „You Got Me So I Don’t Know / Solomon Grundy“ von 1969 ging sang- und klanglos unter, die Nachfolgesingle mit „That Same Old Feeling“ hingegen entpuppte sich als der Sieger der Inhouse-Politik mit der Mehrfachproduktion des gleichen Titels. Die Single mauserte sich anfangs 1970 zum Top-5-Hit und bescherte Pickettywitch einen ersten Auftritt in der trendigen TV-Musikshow Top Of The Pops. Die B-Seite der Single – „Maybe We’ve Been Loving Too Long“ – war mit ihren Bass- und Gitarrenläufen wesentlich progressiver angehaucht als die A-Seite mit dem leichtgewichtigen Hit, es war vermutlich eher die bevorzugte Richtung der meisten Pickettywitch-Musiker die nicht in die Easy-Listening-Ecke abgeschoben werden wollten, auf alle Fälle setzte kurz nach „That Same Old Feeling“ ein nicht enden wollender Besetzungswechsel bei der Band ein. Der erst Jahrzehnte später veröffentlichte Song „Fugue“ von Chris Warren und Keith Hall wäre mit ziemlicher Sicherheit eine Vorgabe für die künstlerische Richtung gewesen, also gesetzt den Fall man hätte sich als Musiker frei entfalten können.
Um vom Erfolg des Hits zu profitieren wurde die LP Pickettywitch nachgeschoben, glücklicherweise mit neuem Material, darunter auch der Nachfolgehit „(It’s Like A) Sad Old Kinda Movie“, eine exquisite Version von Paul Simons „Sound Of Silence“, luftig schwebende Sunshinepopsongs („I’ll Say Bye Bye“), betörender Bacharach-Loungecore à la „Days I Remember“ und „There He Goes“, „Two Hearts Are Better Than One“ hingegen war beatlesker Goodtimepop und glänzte mit der Leadstimme von Chris Warren.
1971 folgten weitere Singles, darunter der gelungene Easy-Listening-Klopfer „Waldo P. Emerson Jones“. Das von Polly Brown mitverfasste „Number Wonderful“ wurde 1972 zur letzten Pickettywitch-Single mit Beteiligung der Sängerin, sie entschied sich für eine Solokarriere, Pickettywitch waren zu diesem Zeitpunkt als Band so oder so nicht mehr existent. Die opulent arrangierte 73er-Single „The Power And The Glory“ mit dem ausgezeichnet groovenden „Living By The Gun“ auf der Rückseite war vermutlich ein reines Studioprojekt mit Chris Warren als Leadsänger.
1973 veröffentlichte Polly Brown ihr erstes Soloalbum das unter anderem eine gelungene Version von „To Love Somebody“ von den Bee Gees enthielt. Der erhoffte Erfolg blieb trotz positiver Kritiken aus und PYE verlor das Interesse, in einem nächsten Schritt tat sich Polly 1974 mit dem Soulsänger Tony Jackson zum Duo Sweet Dreams zusammen, die erste Kollaboration war „Honey Honey“, ein Titel der jungen aufstrebenden Band ABBA die gerade ihren Siegeszug rund um die Welt angetreten hatte. Um nicht mit ihrer Vergangenheit im Easy-Listening-Bereich in Zusammenhang gebracht zu werden, griff Polly für den ersten Fototermin in den Schminktopf, verpasste sich einen dunklen Teint und zog sich eine Perücke über, allerdings erstrahlte sie bereits auf dem Cover der gemeinsamen LP We’ll Be Your Music (1976) wieder in alter Helligkeit und Blondheit.
Die Singles die Polly Brown in den 80ern veröffentlichte braucht man nicht wirklich zu kennen, da presste sie nur noch ziemlich durchschnittlichen Pop in die Platterillen. Das Pickettywitch-Oeuvre das während der relativ kurzen Zeit des Bestehens entstand kann sich hingegen auch 50 Jahre später noch durchaus hören lassen.
Das Gebiet des Easy-Listening-Pop wurde im Vereinigten Königreich noch ein paar Jahre erfolgreich von Bands wie Blue Mink, The Family Dogg, The New Seekers bewirtschaftet und selbstverständlich auch von der schottischen Legende Middle Of The Road die mit Titeln wie „Chirpy Chirpy Cheep Cheep“ und „Soleil Soleil“ der Szene den Stempel aufdrückten, zumindest bis vier legendäre Schweden das Zepter an sich rissen und das im Handstreich genommene Gelände jahrelang nicht mehr frei geben wollten.
LONG LIVE EASY LISTENING!
mellow
Pickettywitch and Polly Brown
and Sweet Dreams – The Anthology 1969-1976
(DoCD, 2016, RPM Records)
Eine absolut überzeugende Gesamtschau:
CD 1 mit sämtlichen Aufnahmen von Pickettywitch.
CD 2 beinhaltet die 73er Solo-LP von Polly Brown und das Album Sweet Dreams von 1976,
wie immer bei RPM/Cherry Red mit Bonustracks, sprich Singles-Titel die nicht auf den originalen Alben vertreten waren.