Ray Bryant – Lonesome Traveler (1966)

Aufgrund der Hintergrund-Informationen zur LP Euphrates River (1974) von The Main Ingredient landete ich in New York im RCA Studio C, einem Teil des mehrere Tonstudios umfassenden Studiokomplexes in welchem sich bis zur Auflösung des Grosskonzerns Radio Corporation of America (kurz RCA) im Jahre 1986 auch viele Künstler mit Rang und Namen die Türklinke in die Hand gaben. Aber aufgepasst, ich schreibe hier nur von der RCA-Niederlassung in Big Apple, der Konzern betrieb nicht nur legendär gewordene Studios in New York, Nashville und Los Angeles, sondern auch in Südamerika und in Europa. Studio A in NY war den grossen fetten Produktionen und den Stars vorbehalten (Orchester brauchten eben enorm viel Platz), abgestuft ging es dann bis Studio D das als letztes und kleinstes Produktionsstudio für überschaubare Projekte in Betrieb genommen wurde. Alleine in den New Yorker RCA-Räumlichkeiten wurden im Lauf der Jahre tausende Songs aufgenommen und abgemischt, eine komplette Liste existiert zwar nicht, aber nur schon die Datenbank-Einträge die man findet lassen einen gigantischen Output vermuten. Anyway, der Sound von Euphrates River begeisterte mich dermassen, dass ich mich ein wenig umschaute im Archiv, genauer gesagt legte ich einige Produktionen aus der RCA-Filiale New York unter die Lupe und stiess auf Anhieb auf unglaubliche Fundstücke, zum Beispiel auf den Pianisten, Komponisten und Bandleader Ray Bryant.

 



Ray Bryant – Lonesome Traveler
(1966, LP, Cadet)
A1) Lonesome Traveler
A2) ‚Round Midnight
A3 These Boots Were Made For Walkin‘
A4) Willow Weep For Me

B1) The Blue Scimitar
B2) Gettin‘ Lose
B3) Wild Is The Wind
B4) Cubano Chant
B5) Brother This ‚N‘ Sister That

Schlicht grandios was der Jazz- und Blues-Pianist begleitet von Drummer Freddie Waits und den beiden Bassisten Jimmy Rowser und Richard Davis in die Tasten hämmerte. Zusätzliche Farbtupfer erhielten einige der Songs durch Flügelhorn und Trompete von Clark Terry und Snookie Young. Der Klang dieser Aufnahmen die auch unter dem Begriff Soul-Jazz eingeordnet werden ist umwerfend, glasklar und transparent, ein Phänomen auf das man oft stösst im Bereich Jazz. Nummern wie „Cubano Chant“, der Titelsong oder die klasse trabende Interpretation von „These Boots Were Made For Walkin‘“ machen definitiv Lust auf mehr, es ist daher zu befürchten, dass man sich wenn man sich auf diesen Musiker eingelassen hat, Lonesome Traveler nicht ausreicht und man sich sich weitere Bryant-Alben beschaffen muss. Die Krönung dieser Langspielplatte ist übrigens das Plattencover, eine Fotografie des 1968 verstorbenen Donald S. Bronstein (er war Art Director bei Cadet), eine Aufforderung sich zu der Lady in den Bahnwaggon zu setzen und diesen unglaublichen Klängen zu lauschen. Insgeheim frage ich mich wie es der 2011 verstorbene Ray Bryant geschafft hat, sich so lange vor mir zu verstecken, er ist ja kein Unbekannter, er begleitete in den 1950ern Charlie Parker, Miles Davis, Lester Young und Dizzy Gillespie, machte sich Anfang der 60er selbständig und stellte 1961 mit seiner Ray Bryant Combo die Begleitband für das erste Album von Aretha Franklin. Wer den Blues nicht hat oder ihn von einer eher unkonventionellen Seite kennen lernen möchte, der kann ihn sich bei Ray Bryant abholen, in all seinen schillernden Variationen. Aufgrund der Formationsgrösse tippe ich übrigens darauf, dass die Aufnahmen im intimen Rahmen von Studio C entstanden sind, das kleinere Studio D wurde offenbar erst Anfang 70er in Betrieb genommen.

Falls bei irgendwem da draussen Lonesome Traveler so einschlagen sollte wie bei mir, dem würde ich empfehlen sich unbedingt auch um die nachfolgende LP‘s kümmern, zum einen das die in gleicher Besetzung entstandene Hammeralbum Slow Freight (1967, Cadet, ebenfalls bei RCA aufgenommen) mit dem furiosen 10minütigen gleichnamigen Titelsong und einem betörenden „Amen“ und zum andern um das Album Take A Bryant Step (1967, Cadet, in den Ter Mar Studios in Chicago entstanden) das neben anderen zeitgenössischen Hits eine atemberaubende orchestrale Easy-Listening-Laidback-Version von „Paint It Black“ mit an Bord hat, die Begleitband war hier das Richard Evans Orchestra.

Für Up Above The Rock (Cadet, 1968) ging es noch einmal zurück zu RCA nach New York, der Meister liess sich nun von Ron Carter (Bass) und Grady Tate (Drums) begleiten, für kühlendes Gebläse sorgten Danny Moore, Dobbie Hiques und Snookie Young. Insgesamt beinhaltet der Longplayer Up Above The Rock vielleicht etwas weniger Blues da das Schlagzeug härter gespielt wird, eine Parallele zur Entwicklung des Soul dem damals heftig flatternde und um sich schlagende Funk-Flügel aus dem Körper wuchsen, infolge der groovy  Drum-Begleitung beginnt aber auf diesem Exponat selbst „Mrs. Robinson“ zu rocken, herrlich. Die Platte kann in meinen Ohren vor allem auch mit einer wunderbar luftig federnden instrumentalen Killer-Coverversion von „If I Were A Carpenter“ punkten. Es war vermutlich die letzte Platte die Ray Bryant bei RCA aufnahm, verursacht durch den Wechsel von Cadet zur Record Company Atlantic sass er ab 1970 in deren eigenen Studios hinter dem Klavier. Anspieltipp: „Let It Be“ von seinem Atlantic-Album MCMLXX (1970), eine hochdynamisch und spannend angerichtete Version von einem der langweiligsten Titel der Beatles.

Ach ja, eigentlich wollte ich es schon weiter vorne erwähnen, also dass die vorab erwähnten Aufnahmen von Ray Bryant „gitarrenfrei“ sind. Aber mal ehrlich, braucht es eine Gitarre wenn einer dermassen überzeugend auf die Tasten haut?

Spass beiseite, ich habe doch noch ein paar Gitarren gefunden im Fundus von Ray, auf „Watermelon Man“ und „In The Cut“ vom unterschätzten 74er-Soul-Jazz-Funk-Album In The Cut (wieder bei Cadet und mit einem klasse Pianoklaviatur/Brücke-Plattencover ausgestattet) versteckte der Gitarrist John Tropea ein paar wirklich coole Solos und bei „Andalusian Nights“ griff Jimmy Ponder in die Saiten einer elektrischen Jazzgitarre.

Ab 1972 war der Pianist regelmässiger Gast am Jazz Festival Montreux, 1972 wurde sein dortiger Solo-Auftritt von Stephan Sulke für die Nachwelt festgehalten.

Ray Bryant der bürgerlich eigentlich Raphael Homer Bryant hiess, verstarb 2011 im Alter von 80 Jahren.

LONG LIVE JAZZ’N’SOUL!
mellow

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