Rheingold (1980)

Manchmal frage ich mich, ob die Kidz die bei Nacht und Nebel mit Spraydosen bewaffnet Autobahnbrücken, Bahnviadukte oder Tunnels verschönern, überhaupt ihre eigentliche Sprayer-Hymne „Graffitis“ kennen. Eher nicht vermute ich, diese jungen Künstler sind wohl später geboren worden und schliesslich sind seit besagtem Song auch schon diverse Jahrzehnte ins Land gegangen. Rheingold kennt fast niemand mehr, Wandmalereien entspringen aber immer wieder dem Dunkel der Nacht.

Die Debut-LP von Rheingold passte damals ausgezeichnet in meine musikalische Landschaft, fühlt sich auch heute noch so frisch wie am ersten Tag an. In Zürich ging der „Sprayer“ (alias Harald Oskar Naegeli) um und verschönerte die graue Stadt, ich selber experimentierte an der dortigen Kunstgewerbeschule mit Formen und Farben. Die 70er waren endgültig Geschichte, man versuchte trotz teilweise widriger Umstände hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken.

Ob dieses betörende Album Teil der sogenannten Neuen Deutschen Welle ist, kann ich nicht beurteilen, bin in diesem Teilbereich kein Experte. Für mich ist Rheingold eine Schnittstelle zwischen Antike und Moderne, fusioniert scheppernde Elektrogitarren mit japanischen, wie blöde vor sich hin eiernden Ping-Pong-Drumcomputern. Rheingold ist Elektropop, ist pures Easy Listening, lebendige, leichte und melodische Musik die Platz für gedankliche Interpretationen lässt, noch nicht einmal die naiv/plakativ/kryptischen Textfetzen stören. Rheingold ist ein unvergängliches und zeitloses Nugget, hat Fluss und Esprit, duftet wie eine süssliche Zigi, ist so quirlig wie die lustig herumtanzenden Bläschen im Sektglas.

Vielleicht ist diese Platte deshalb nicht gealtert, weil sie sich nicht an die Wand pinnen lässt, sie öffnet immer wieder einen Spalt breit die Tür, lässt den Eingang offen für eine neue Betrachtungsweise. Im Nachhinein, um etliche musikalische Forschungsarbeit weiser, möchte ich jetzt mal kühn behaupten, das ist Trip Hop in einer frühen Inkarnation: Alles ist erlaubt, Hauptsache es schwebt und fliesst und macht Spass…

LONG LIVE… RHEINGOLD!
mellow

 


Rheingold (LP, 1980, Welt-Rekord/EMI)
1. ‚Rein
2. Fluss
3. Graffitis
4. Himmelgeist
5. Dreiklangsdimensionen
6. Pirata
7. International
8. Rendezvous
9. Rheingold extra
10. ‚Raus
Bonustracks CD-Reissue EMI (2005):
11. River (englische Version)
12. Triad dimensions (englische Version)
13. Rheingold (Single)
15. Staiger Walzer (Single B-Seite)
16. Dreiklangsdimensionen (Single)

Rheingold:
Bodo Staiger – Gesang, Gitarre
Brigitte Kunze – Keyboards
Lothar Manteuffel – Texte

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3 Kommentare

  1. Bei meinen Beiträgen: Licht Aus, Spot An!: Musik Der 70er – Futter für Bücherwürmer, Pia Lund und Kiev Stingl bin ich kürzlich oft an die Frage erinnert worden, noch Krautrock, schon Neue Deutsche Welle oder Deutsch-Rock. Die gleiche Entwicklung hat etwas anders auch Ostdeutschland mitgemacht. Ich bin inzwischen an dem Punkt, das ich nicht mehr in der Zeitachse zuordne, sondern der musikalischen Richtung. Wenn man den gesamten Blog-Beitrag liest, haben die drei daran beteiligten Fachleute schon die wichtigen Aspekte herausgearbeitet. In die Gruppe zu Rheingold gehören sicher ebenso Wolfgang Riechmann (1978: Wunderbar), Richard Schneider Jr. (1980: Fata Morgana), Harald Großkopf (1980: Synthesist), die Werke von DIN A Testbild (ab 1979) sowie S.Y.P.H. (ab 1980) und auch noch einige weitere mehr. Rhythmische & Zeitlose Grüsse, Der SchoTTe

  2. Rheingold waren zunächst nur Durchschnitts-NDW (Dreiklangdimensionen, Fan-fan-fanatisch), aber dann lief der „Fluss“ mir aufs Band. Das ist bis heute so schön mystisch UND modern … das bleibt für die Ewigkeit. Der schönste Song, der eigentlich auf La Düsseldorfs „Viva!“ LP gepasst hätte – aber von denen nie geschrieben wurde.

  3. @mellow; Zustimmung von mir hierzu. Eigentlich habe ich mich gerade wieder an deinen Artikel erinnert, als ich SOUND OF SILENCE gehört habe – und man höre und staune – auch hier das Thema Graffiti:

    And the people bowed and prayed
    To the neon god they made
    And the sign flashed out its warning
    In the words that it was forming
    And the sign said, The words of the prophets
    Are written on the subway walls
    And tenement halls
    And whispered in the sounds of silence

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