Der Drummer habe das nur gemacht weil jemand mit einer Flinte auf ihn gezielt hätte und keine Fluchtmöglichkeit bestand. Der Typ hat die Nummer ganz einfach gehasst. Punkt. Der schämt sich bis heute für seinen unprofessionellen Auftritt und hat alles daran gesetzt anonym zu bleiben.
In etwa so lesen sich die Kommentare die ein unbekannter Drummer für seinen Einsatz im Video zu „Reach Out, I’ll Be There“ von Gloria Gaynor im Nachhinein abbekam. Nun, da der Promotionfilm offenbar in einem Club mit aufgebauter Backline für eine Band abgedreht wurde, liegt die Vermutung nahe, dass der involvierte Trommler das für einen Fünfziger am Nachmittag vor seinem Auftritt gemacht hat, kleiner Zusatzverdienst, zusätzlich zur üblichen Gage. Clubbesitzer: Brauchst dich nur hinter dein Schlagzeug zu setzen und ein wenig im Takt zu trommeln, die gesamte Musik kommt vom Band, die Sängerin macht auch Playback. Okay, wie das überdrehte Gehämmere ablief hatte er gleich geschnallt, als die hektisch aufgebauten Kameras dann aber liefen kriegte er doch ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Meine Güte, was ist wenn mich hinterher jemand erkennt in dem Streifen? Machst du jetzt auf Primitivbuschtrommel oder was? Sein Gesichtsausdruck versteinerte sich bei dieser Vorstellung und bereits surrten die Kameras. Kein Ausweg aus der Situation, no exit, gefangen hinter dem vertrauten Schlagzeug und wer weiss, vielleicht bedroht von 1000 Gewehrläufen hinter den blendenden Scheinwerfen. Auf die Zähne beissen Alter und keine Miene verziehen, da musst du durch…
Es könnte wirklich einer dieser Momente sein in denen die Discomusik geboren wurde, herrlich eingefangen in diesem mit kleinen Makeln ausgestatteten Promostreifen. Gloria Gaynor trifft keine Schuld, sie war wohl noch nicht so selbstsicher und wurde einfach auf die Bühne geschubst, den unbekannten Perkussionisten wohl auch nicht, aber dem zuständigen Film-Produzenten hätte man ein Berufsverbot erteilen müssen, dem fehlte auf jeden Fall die Übersicht, wahrscheinlich auch ein vernünftiges Budget. Er hätte eingreifen müssen um die Sängerin in bestmöglichem Licht erscheinen zu lassen, mit dem griesgrämigen Kerl hinter dem Trommelarsenal hätte er klärende Worte wechseln müssen. Die Stimmung die vermutlich am Set geherrscht hat lässt sich leicht an der Mimik der beiden involvierten Protagonisten ablesen, nicht wirklich entspannt, irgendwie lag da Zoff mit der Filmcrew oder den zuständigen Managern in der Luft. Aber wie geschrieben, man kann diesbezüglich bloss Vermutungen anstellen. Fact ist, dass solche unterstützenden Filme ab Mitte der 1970er immer wichtiger wurden für die Musikindustrie, das bald folgende VHS-Zeitalter beeinflusste nicht nur die Discomusik sondern auch andere Musiksparten, genauer gesagt wurde eigentlich die gesamte Musikindustrie umgepflügt.
„Reach Out, I’ll Be There“ war 1975 nicht neu, das Songschreibergespann Holland-Dozier-Holland hatte den Song 1966 in aller Eile für die Motown-Superstars Four Tops angefertigt damit die nach ihrer Tour auch gleich wieder genügend frisches Studiomaterial vorfanden. Was zuerst als Füller gedacht eingeplant wurde, geriet dann aber zum Hit. „Reach Out I’ll Be There“ gefiel auch anderen Sängern, P.J. Proby und Chris Farlowe bedienten sich, Diana Ross schaffte es 1971 tatsächlich eine ungeniessbare Schnulze daraus zu machen. 1982 bog sich David Johansen (ex New York Dolls) den Titel auf der Werkbank in eine für ihn passende Form und selbst die britische Teenyband Kenny liess auf einer ihrer letzten Singles „Reach Out“ mit pumpendem Disco-Bass ganz ordentlich klingen.
Die abgedrehteste Version ist aber noch immer diejenige der 1949 in New Jersey geborenen, bis dahin noch relativ unbekannten Soulsängerin Gloria Gaynor die 1974 bei MGM einen Platten-Vertrag erhielt. Im damals angesagten Studio Mediasound in Manhattan entstand unter Mitwirkung von Produzent Tony Bongiovi (richtig geraten, ein Cousin des späteren Popstars Jon Bon Jovi) die Langspielplatte Never Can Say Goodbye. „Reach Out, I’ll Be There“ war der dritte Teil des Sandwiches auf Seite eins der LP. „Honey Bee“ (mit Fuzz-Gitarre um eine Biene zu imitieren) stand am Anfang und blendete am Ende pausenlos in den Titelsong über, von dort ging es nach 6 Minuten schnurstracks und ebenfalls ohne Pause mit „Reach Out“ weiter. 19 Minuten nonstop durchgehende und unkomplizierte Beats, die Tänzer und Tänzerinnen in den entsprechenden Lokalen schlossen die Marathon-Dance-Platte auf Anhieb ins Herz, die DJ’s auch, eine solches XXL-Soundbed garantierte auch mal eine längere Pause. Grundsätzlich neu war der Sound auf der Platte nicht, er setzte sich aus Bauteilen der Motown- und Philly-Küche, aus Soul, R&B und Funk zusammen, neu war höchstens die Konzentration auf Bass und Drums. „Reach Out, I’ll Be There“ erhielt einen komplett rundumerneuerten Unterbau, die Drumspur hatte schlussendlich überhaupt nichts mehr mit dem bekannten Motownsound zu tun, das war viel mehr kraftvolles Powerdrumming wie man es im britischen Glamrock antreffen konnte, bei Produktionen der aus Detroit stammenden Suzi Quatro beispielsweise. Die Drum-Toms wurden ganz bewusst an die Distortion-Grenze hochgefahren, auf diese Weise sollte der grösstmögliche Bassdruck erzeugt werden. Über dem ganzen kompakten mit Strings verfeinerten Kuchen thronte natürlich die tolle Soulstimme von Gloria. Das Besondere an der Produktion war wie vorgängig geschildert der Mix, die Abstimmung der einzelnen Bauteile aufeinander.
Die verkürzte Single-Version von „Reach Out, I’ll Be There“ stürmte in den USA auf Platz 2 der Billboard-Charts. Ihren allergrössten Erfolg landete Gloria Gaynor 1978 mit dem weltweiten Nummer-1-Hit „I Will Survive“. Beide Songs wurden nicht nur beliebte Evergreens im Bereich Disco, sie wurden auch zu Hymnen der Lesben- und Schwulenbewegung. Die Disco-Queen und Grammy-Gewinnerin Gloria Gaynor erlebte Höhen und Tiefen in ihrem Leben und ist mittlerweile in der Gospelmusik zuhause. 2019 meldete sie sich zurück mit dem (ausgezeichneten) religiös angehauchten Album Testimony.
„Reach Out, I’ll Be There“ von Gloria Gaynor find‘ ich ausgezeichnet.
Heute kann ich das ja öffentlich sagen, damals im Teenageralter hätte ich das nie im Leben zugegeben.
GET-UP-AND-DANCE!
mellow
Gloria Gaynor – Never Can Say Goodbye
(LP. 1975, MGM Records)
Seite 1:
1. Honey Bee
2. Never Can Say Goodbye
3. Reach Out, I’ll Be There
Seite 2:
1. All I Need Is Your Sweet Lovin‘
2. Searchin‘
3. We Belong Together
4. False Alarm
5. Real Good People
Bonustracks CD-Edition, 2010, BBR Records:
Honey Bee (Columbia Single Version)
All I Took Boy Was Losing You (B-Seite)
Come Tonight (B-Seite)
Never Can Say Goodbye (Single Version)
We Just Can’t Make It (B-Seite)
Reach Out, I’ll Be There (Single Version)
Honey Bee (MGM Single Version)
Die beteiligten Studiomusiker:
Jeff Miranow – Guitar
Jerry Friedman – Guitar
Lance Quinn – Guitar
Pat Rebillot – Keyboards
Bob Babbitt – Bass
Carlos Martin – Congas
Alan Schwartzberg – Drums
Nachtrag:
Schwartzberg war und ist ein waschechter Profi, nein,
er war das nicht bei dem Videodreh, er war zur entsprechenden Zeit Bartträger.
Danke für die vielen Hintergrundfakten. Reach out war auf meiner allerersten Kassette Aufnahme nur 3, wenn ich mich richtig erinnere. Ja, es liegt am Drumsound. Das geht ab, wird eine LP lang nicht eintönig, ist also weeeeit entfernt von BoneyM und Konsorten! Und 1975 war sie im TV auch noch echt attraktiv. 1978 war ich deshalb bei I will survive recht erschrocken. Nach der Wende kaufte ich bei SPAR oder Edeka oder so diese billig-nachschmeiß-CD mit dem roten Cover, wo auch eine Nr. in die andere übergeht. Es muss aber ne Compilation sein, denn I’ll survive ist auch drauf.