Und wieder einmal wage ich mich über die musikalische Grenze, genauer definiert nach Frankreich, für viele nach wie vor „das verbotenes Terrain“, nur schon der Sprache wegen.
Und einmal mehr ignoriere ich kursierende Meinungen, Warnhinweise und überlieferte halbgare Legenden aus obskuren Quellen, dass französischer Rock für ausserfranzösische Ohren schlicht ungeniessbar sei. Ich brauche nicht allzu weit zu suchen, gleich neben der Fundstelle JACQUES DUTRONC stosse ich auf ein einzigartiges Juwelenfeld, auf das Archiv von NINO FERRER.
NINO FERRER war ein Singer/Songwriter/Musiker italienischer Abstammung, geboren 1934 in Genua, getauft auf den Namen NINO AGOSTINO ARTURO MARIO FERRARI, Karriere machte er allerdings in erster Linie in Frankreich. Der studierte Ethnologe begann sich Ende der Fünfziger für Jazz zu interessieren, spielte dann in diversen Projekten Bass, unter anderem bis 1966 bei der Easy-Listening-Jazz-Formation LES GOTTAMOU. Ab 1963 begann er Singles und EP’s unter dem Namen NINO FERRER zu veröffentlichen, der Erfolg dieser ersten Schallplatten blieb allerdings bescheiden.
„Mirza“ mit seinem implantierten wilden Orgelsolo in der Mitte des Songs und im Schlepptau „Les Cornichons“, brachten dann 1965 den erhofften Durchbruch. NINO FERRER machte damit klar, dass er keiner der üblichen Chanson-Sänger alter Schule war, seine eigenen Songs wie auch seine Adaptionen anderer Komponisten, orientierten sich viel eher am damals noch immer sehr populären Jazz (NINO FERRER griff oft zum Stilmittel „Scat-Vocals“), an amerikanischem Soul und am angesagten Rhythm & Blues der damals von England ausgehend auf den Kontinent übersprang. Eigentlich gab es für FERRER kein musikalisches Gelände das er nicht betrat, selbst die Form des Tango wurde unter die Lupe genommen. In sprachlicher Hinsicht kannte er desgleichen keine Barrieren, seine Hits präsentierte er in den folgenden Jahren oft auch mit variierenden Arrangements und länderspezifisch angepassten Texten auf Deutsch, Englisch, Spanisch und selbstverständlich auf Italienisch. „Le Téléfon“ (1967) – das in der deutschen Fassung zum abgedrehten Killertrack inklusive rauchiger Rockstimme geriet – brachte ihm dann allerdings das Image eines Spassvogel ein, ein Spiel das er eine Zeit lang mitspielte ehe sich dann wieder neu erfand.
FERRER wurde psychedelischer, er produzierte mit RATS AND ROLLS (1970) ein Rockalbum in italienischer Sprache dem 1972 die Rockplatte NINO FERRER & LEGGS nachfolgte. Wie bei vielen anderen Artisten mit Wurzeln in den Sixties wäre jetzt eigentlich der Karriereknick angesagt gewesen, nicht so bei NINO FERRER: 1974 landete er mit der Single „Le Sud“ und dem Album NINO ET RADIAH ET LE SUD einen veritablen Sommerhit. Es war DIE Ferienhymne schlechthin, zumindest im südeuropäischen Mittelmeerraum, dermassen nachhaltig, dass auch über 40 Jahre später noch so ca. jede Französin und jeder Franzose den Text kennt und die Melodie summen kann. NINO FERRER ermöglichten die eintrudelnden Tantiemen den Kauf eines Landgutes welches er mit einem Tonstudio veredelte.
Die folgenden Jahre veröffentlichte NINO FERRER immer wieder Aufnahmen, ohne allerdings jemals wieder in die umsatzträchtigen Dimensionen von „Le Sud“ vorzustossen. Die FERRER-Scheiben die in den 80ern erschienen, krankten allerdings oft auch am etwas künstlichen Klang, da war er aber nicht alleine, der grausige Klang der Drums, Gitarren mit masslos übertriebenem Einsatz von Chorus/Flanger-Effekten, die nervtötenden Synth-Sounds, das war bekanntlich ein weltweit grassierendes Phänomen. Da hatte sich der Artist bereits auf das Gebiet der Malerei begeben, eine Kunstform die ihm immer wichtiger wurde, die Musik wurde irgendwann zur Nebensache.
1995 veröffentlichte der Künstler seine letzte Platte – LIVE CHEZ HARRY – ein wunderbarer Karriererückblick in intimem Rahmen mit grossartig aufspielender Rockband im Rücken. Seine Ansagen zwischen den Songs allerdings fast unhörbar da er offenbar am Mikro vorbei direkt und ohne Verstärkung mit seinem Publikum sprach. LIVE CHEZ HARRY wurde zu seinem letzten offiziellen Tonträger.
Am 13. August 1998 erschoss sich der offenbar lebensmüde gewordene Künstler auf offenem Feld in der Nähe seines Anwesens.
Die von mir erworbene Box NINO FERRER – L’INTÉGRALE DES ENREGISTREMENTS STUDIO & LIVE EN 14 CD enthält die komplette Discografie von NINO FERRER. Die frühen Bands, Solo-Alben, Singles, Obskuritäten (sprich diverse fremdsprachige Fassungen seiner Hits) und vor allem auch mehrere Silberlinge mit zusammengetragenen EP’s (normalerweise waren da 4 Songs drauf), ein Format das sich in vor allem in Frankreich grosser Beliebtheit erfreute.
Die Kiste ist – wie eingangs erwähnt – ein einziges überwältigendes Feuerwerk eines grossartigen Performers, eine Schatzkiste für die es sich lohnt an den Boden der Musikgeschichte zu tauchen…